Strom für Europa

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Aleksej Roko, 19 Jahre

Der Busfahrer kurbelt das Fenster runter. „Das Gebiet unterliegt einer Sturmwarnung“, schnauzt die Frau, ein eisiger Windstoß umfließt ihre stramme Statur. Fröstelnd blickt sie zu ihm hinauf. „Fahren Sie an den Rand.“
„Aye, Offizier“, sagt er und wendet den Bus zu der beachtlichen Fahrzeugschlange. Zieht die Handbremse. 
Im Hintergrund laufen die Fernseher.
„Elli zieht eine Schneise der Verwüstung durch den Kontinent“, tönt die angeregte Stimme der Sprecherin. Die wenigen Passagiere des Fernbusses sitzen verstreut umher und lauschen gebannt. Kleine Fernseher spiegeln sich in ihren Augen und zeigen die Verwüstungen des monströsen Orkans. „Stromleitungen zerstört. Kontinentaler Ausfall von Kraftwerken. Millionen Menschen sitzen ohne Strom in Städten fest. Am härtesten hat es die Küstenstädte Amsterdam, Hamburg-“ Statisches Rauschen. Der Busfahrer verzieht sein Gesicht und blickt aus dem Fenster. Herabfallende Schneeflocken kleiden die Szenerie in ein weißes Kleid. „Schnee im August“, murrt er und wischt das Kondenswasser von der Scheibe. Die Scheibenwischer wischen wild, doch der Ansturm der weißen Pracht ist ungestüm und legt immer wieder aufs neue eine drückende Schneeschicht vor das Sichtfeld des Mannes. Vor ihm versinken Autos im tosenden Schneesturm. Nach dem Sturm wird’s ein verdammter Stau, dachte der Busfahrer genervt, legt seine Hände zusammen und grüßt sie mit warmer Atemluft.
„Die Vereinten Nationen schicken Europa essenzielle Hilfsgüter, aber der Schneesturm und die kritische Lage an dutzenden Kernkraftwerken erschwert das Vorgehen, welches-“ Statisches Rauschen. Der Fernseher zeigt das Bild eines Kernkraftwerkes. Rauch quillt aus den stählernen Eingeweiden.

Ein Fahrgast hinter dem Fahrer schimpft. „Sieht nach ausgleichender Gerechtigkeit aus“, meint er. Der Busfahrer hebt irritiert seine Augenbrauen. Dreht sich um. „Hm?“ Ein dunkelhäutiger Mann.
„Nun, etliche Jahrzehnte haben wir die Erde ausgebeutet. Jetzt lässt sie uns an ihrem Schmerz teilhaben.“ Der Fahrgast richtet sich auf, setzt sich auf den gepolsterten Sitz neben dem Busfahrer, seufzt. „Ein Winter ohne den Golf und den elektrischen Strom wird … kalt.“ Der Busfahrer nickt grimmig. „Wirklich kalt.“ Inmitten der weißen Landschaft zeichnen sich die Umrisse eines anhaltenden Schnellzuges ab.
„Die Kraftwerke werden bald wieder funktionieren“, befindet der Busfahrer dann. Der Fahrgast schimpft erneut. „Wer weiß. In den kommenden Monaten werden die Kraftwerke mit Sicherheit nichts liefern.“ Kreischende Armeesirenen schneiden den Gesprächsfaden. Draußen tobt zwielichtige Eiswüste.

Zeit vergeht.

Die wilde Hupsymphonie dringt in den Bus. Vermummte Gestalten wandern zwischen den Autos. Gestikulieren wild.
„Was ist da vorne los? Warum bewegen wir uns nicht?“, ruft ein Passagier. „Bleiben Sie ruhig. Es geht bald weiter“, erwidert der Busfahrer dem Schreihals. Richtet sich wieder an den Fahrgast neben sich.
„Mein Bruder ist Ingenieur. Die bauen an mehreren Orten in Europa geothermische Anlagen. Gute, saubere Energie. Wird schon“, schätzt er. Der Fahrgast runzelt wenig überzeugt die Stirn.
„Wer weiß.“ Dumpfe Rufe von draußen. „Mein Cousine ist Politikerin. Meint, dass die EU Strom aus der MENA-Region kaufen wird. EU-MENA-Vertrag. Ägypten, Marokko, Tunesien. Die haben da riesige solarthermische Anlagen. Von denen werden wir den Strom kaufen müssen, wenn die ganze Infrastruktur wieder funktionieren soll. Auch gute, saubere Energie. Die haben da gerade Konferenzen.“ Die Busscheiben erzittern, dicke Hagelkörner fallen herab und zerbersten in tausende Scherben. Das dickliche Gesicht des Fahrers ist mit Zweifel übersät. „Pah, Politiker. Von außen sollten wir nichts kaufen. Sollte alles hier auf unserem Boden bleiben.“
Die winterliche Kälte schlüpft leise in den Bus, frisst sich durch Stoff, Haut und Muskeln bis zu den Knochen durch.
Der Busfahrer dreht die Heizung auf die höchste Stufe. Sein Gegenüber verschränkt seine Arme, blickt den Mann mit leicht geröteten Wangen an. „Überlegen Sie, Solarthermie aus MENA bringt nur Vorteile!“
„Pah, zu weit weg! Da geht der ganze Strom verloren.“
„Mein Cousine, die Politikerin, meint, dass HGÜ verlustarme Stromübertragung ermöglicht. Auch unterirdisch. Keine Gefahr vor Orkanen!“
„Erdbeben“
„Das ist auch bei Geothermie ein Problem.“
„Seien Sie doch ruhig! Das mit dem Strom kriegen wir bald hin.“
„Nicht, wenn solche Unwetter, Fluten und Beben Europa im Griff halten. Das geht schon Monate so. Rob. Herbert. Elli.“, erwidert der Fahrgast und blickt mit leicht entnervter Miene nach draußen. Der Sturm wird drängender, fordernder, lässt die gesamte Szenerie um den Bus in einem trüben Weißton zurück. Heult wie ein einsamer Wolf. Quetscht sich durch die kleinsten Risse in den Bus hinein.
„In anderen Teilen der Welt haben die essbares Plastik. Arbeiten ausschließlich mit erneuerbaren Energien. Seit die Temperatur um vier Grad gestiegen ist, können wir uns nicht mehr auf Wind und Wasser verlassen. Die Solarthermie in den Wüsten ist die Zukunft der erneuerbaren Energien.“
Der Busfahrer versucht die Heizung wärmer zu stellen. Klappt nicht. Er steckt seine Hände in die Achselhöhlen. Hustet krampfhaft.
„P-Pah, Blödsinn! Wind und Wasser wird schon klappen. Hat doch schon immer geklappt.“
„Überlegen Sie, durch den EU-MENA-Vertrag werden Städte ohne Ausstoß von Schadstoffen auskommen und Solarthermie in MENA bleibt von den Unwettern verschont. Das ist unerschöpfliche Energie. Das ist die Zukunft.“
„Pah. Das ist Blödsinn.“
Vermummte Gestalten sprinten am Bus vorbei, säen mit gehetzten Schreien Furcht in die Herzen der Businsassen. Das Heulen nimmt infernalische Dimensionen an, verkeilt mit kräftig läutenden Sirenen und den Hagelkörnern schwappt es in den Bus. „Was ist los? Warum fahren wir nicht?“, brüllt der Schreihals, während Andere zu unverständlichen Schreien anstimmen.
Der Busfahrer ignoriert sie und blickt nach vorne.

Schneewand. Sturm. Schneewand. Sturm. Schneewand. Elli.

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Autorin / Autor: Aleksej Roko, 19 Jahre