Pinselstriche

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Greta Bartling, 15 Jahre

Heute ist sie schlecht drauf. Sie setzt sich. Das Knirschen ihres Stuhles reißt mich aus meinen Gedanken.
Sie bindet sich die Haare zusammen. Im Schein der Lampe schimmert es wie flüssiges Gold. Dann beugt sie sich ein wenig über die Leinwand, betrachtet ihr unvollendetes Werk. Betrachtet uns. Unsere Welt. Mich.
Falten erscheinen auf ihrer sonst so ebenmäßigen Stirn. Unzufriedenheit dominiert ihre feinen Gesichtszüge. Ihre Hand greift nach den Farben. Grau und Schwarz. Nicht etwa Rot oder Grün oder Gelb… nein. Grau und Schwarz.
Gebannt beobachte ich, wie sie die Farben öffnet. Ich kann sie riechen. Dunkelheit. Krankheit. Gefahr. Lange, filigrane Finger greifen nach dem Pinsel, umfassen ihn sanft. Sie tunkt ihn ein. Ich schlucke. Erstarre.
Dann kommt der erste Pinselstrich. Verdunkelt den Himmel. Ich kann nichts sehen. Er verpestet die Luft. Ich kann nicht atmen. Mein Puls rast, kalter Schweiß beginnt mir von der Stirn zu perlen. Ich laufe los. Renne durch die Berge von Plastiktüten. Müll. Überall. Versperrt die Sicht, begräbt das Leben.
Sie lächelt. Grimmig. Brutal. Ihre elfengleichen Gesichtszüge sind verzerrt.
Ich schließe die brennenden Augen. Will fort. Ungerührt malt sie weiter. Ich bin machtlos. Sie ist die Malerin. Die Weltenmalerin. Sie entscheidet. Sie wählt die Farben aus.
Es gibt keine Hoffnung. Zu groß ist der Sturm der Wut in ihr. Zu tief das Meer der Gefühle. Sie steuern die Pinselstriche, umfassen ihren Körper mit langen, eiskalten Fingern. Zwingen sie, ein Abbild ihrer tiefsten Ängste zu malen. Zwingen sie zu morden. Zu zerstören.
Asche verfängt sich in meinen Haaren. Neben mir fällt ein Schmetterlingskörper auf den verdorrten Boden. Blutend und wehrlos. Seine bunten Flügel liegen neben ihm. Ausgerissen.
Ich beobachte, wie er stirbt. Langsam und Qualvoll schließt er mit dem Leben ab. Rote Farbe ergießt es sich über den Boden. Gierig saugt die trockene Erde sie auf. Die Wunde füllt sich mit Leere.
Das soll meine Welt sein? Unsere Welt? Bis in alle Ewigkeit? Ein Schluchzen kommt über meine Lippen. Dann schreie ich, so laut, doch es hört mich niemand. Mich hat noch nie jemand gehört. Oder will mich hören.
Urplötzlich stoppt alles. Sie wendet sich ab. Legt den Pinsel beiseite. Steht auf. Für heute ist sie fertig.
Ich lasse mich auf die Knie sinken. Bin so müde. So unsagbar müde. Mit geschlossenen Augen warte ich auf den Regen. Morgen wird sie weitermalen. So lange, bis diese Welt am Abgrund steht. Und herunterstürzt.

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Autorin / Autor: Greta Bartling, 15 Jahre