Die Großstadtblase

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Lilia Ma, 26 Jahre (außer Konkurrenz)

Die Nacht ist kurz. Aus dem halboffenen Fenster ist der Baustellenlärm von nebenan zu hören. Auf die Uhrzeit nimmt die Baugesellschaft keine Rücksicht. Schließen kann ich das Fenster aber nicht, denn es ist zu heiß und stickig im Raum. Der Sommer in der Stadt ist ohne Klimaanlage zuweilen unerträglich und wird mit jedem Jahr schlimmer. Nach einem unerholsamen Schlaf wache ich frühmorgens auf, ziehe mich rasch an und mache mich auf den Weg zur Arbeit.
Ein Auto besitze ich nicht, aber bei dem entsetzlichen Verkehr ist die U-Bahn ohnehin praktischer. An der Haltestelle angekommen bin ich eine Person unter Tausenden. Ich drücke mich an den Menschenmassen vorbei, durch die Sicherheitskontrollen, nehme mehrere Rolltreppen, bis ich schließlich am Gleis ankomme. Das folgende Gedränge in der Bahn nehme ich gleichgültig hin. Ich komme hier all den fremden Leuten so nah und wechsle doch kein Wort mit ihnen. Eine Unterhaltung zu führen wäre auch völlig zwecklos, denn jeder ist in sein individuelles Online-Universum versunken. Die virtuelle Welt gaukelt uns eine globale Verbundenheit vor. Doch in Wirklichkeit erschafft sie bloß deine eigene, einsame Blase. Die Stadt ist voller solcher Blasen.   
Erschöpft und etwas gestresst komme ich im Büro an, wo ich die üblichen Stunden absitze. Zwischendurch lege ich noch eine Mittagspause ein. Meist gehe ich dafür ein paar Querstraßen weiter in einen Imbissladen und bestelle irgendein günstiges Standardmenü. Früher machte ich mir Gedanken über meine Ernährung und versuchte sie gesund und ausgeglichen zu gestalten. Mit der Zeit merkte ich jedoch, dass es nichts nützt. Das Essen, das ich zu mir nehme, ist für mich nicht greifbar. Es ist gewissermaßen in seiner eigenen Blase, die weit gereist ist, um auf meinem Teller zu landen. Diesen Weg kann ich unmöglich nachvollziehen und es würde mir auch keiner dabei helfen. Es wäre ja auch nicht in ihrem Interesse, ehrliche Transparenz zu schaffen. Und das Online-Universum schafft sowieso nur noch mehr Verwirrung. Um mir dieses mühselige Unterfangen zu ersparen, entschied ich mich irgendwann dazu, die Lage einfach zu akzeptieren. Resigniert schaufle ich nun also das giftige, krebserregende Essen in mich ein, das vermutlich aus Petrischalen stammt.
Nach dem Arbeitstag bin ich noch erschöpfter als am Morgen. Den ganzen Tag nur auf den Computerbildschirm gestarrt, habe ich nun zusätzlich Migräne. Wie gut, dass ich dafür stets meine Pillendose bei mir trage.
Der Heimweg ist genauso nervenaufreibend wie am Morgen. Ich bewege mich durch die kräftezehrenden Betonbauten hindurch und schlängle mich an den unzähligen Autos vorbei. Die Stadt ist nun in eine Dunstwolke gehüllt, die keinen Lichtstrahl durchlässt. Denn die Luft ist so stark verschmutzt, dass Sie den Alarm ausrufen und den Menschen raten müssen, zu Hause zu bleiben. Aber wie soll man unter solchen Bedingen leben, zur Arbeit kommen? Uns bleibt also nichts anderes übrig, als das Gift zu atmen. 
Zu Hause angekommen korrigiere ich noch einen Bericht und schicke letzte E-Mails ab. Anschließend nehme ich einen schnellen Snack zu mir, schaue vielleicht noch die Nachrichten und lege mich dann ins Bett. Ich schließe mein Telefon an das Ladekabel, beantworte alle Nachrichten meiner Freunde und Familie, schaue kurz bei Facebook rein und schlafe irgendwann ein. Der Zyklus beginnt erneut.
Sie werden jetzt sagen, mein Leben sei doch gar nicht so schlecht, sogar besser als das Leben vieler anderer. Viele Menschen auf der Welt sind tödlich krank, am Verhungern oder leben in Krisengebieten. Aber ich bin mit diesem Zustand nicht alleine. Ein Blick in die Gesichter der Anderen verrät, wie viele von der Lethargie befallen sind. Ich denke sogar, dass es ein Massenphänomen ist. Aber die wenigsten äußern sich dazu. Denn es wird erwartet, dankbar für dieses Leben zu sein. Für diesen Job. Für eine Wohnung in dieser Stadt. Für ein sicheres Leben. Mit Sicherheitskontrollen, sogar in der U-Bahn. Es wird erwartet, die globale Entwicklung hinzunehmen, daran teilzunehmen und sie zu beschleunigen. Durch Konsum glücklich zu werden.
Aber unbewusst merken wir alle, dass uns etwas fehlt. Dass wir chronisch krank sind. Weil wir unsere Wurzeln verloren haben, uns von der Erde entfernt haben. Dass nicht nur der Asphalt uns von ihr trennt, sondern unser Denken. Unser Dasein und was wir erschaffen. Das Online-Universum. Wir fühlen uns nicht mehr als Teil der Erde und der Natur. Stattdessen fühlen wir uns erhaben und verändern alles, was wir berühren. Ob gewollt oder nicht, jeder ist Teil dieses Prozesses. Aber keiner scheint ehrlich und innbrünstig zu begreifen, wozu das führt. Und so gehen wir mit. In diesem System gibt es ohnehin keinen Fluchtweg. Und schon gar nicht für eine Blase.

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Autorin / Autor: Lilia Ma, 26 Jahre