Ein Quadratmeter Sonnenschein

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Marina, 18 Jahre

Damals. „Wenn man die Augen auf einen bestimmen Punkt richtet und den Blick unscharf werden lässt, dann sieht das Licht, das durch das Blätterdach fällt, aus wie goldenes Konfetti“, sagt Mama, während sie meine Haare zu einem Zopf flicht.
Ich kneife die Augen zusammen und blicke nach oben. „Wow“, flüstere ich und bewundere die funkelnden Punkte, die überall um mich herum in der Luft tanzen.
„Siehst du, Schatz, es gibt in dieser Welt viel mehr Magie, als wir sehen.“

Heute. Ich laufe durch das hohe Gras und spüre, wie meine Fußspitzen nass werden vom Morgentau, der sich durch den Stoff meiner Schuhe saugt. Noch ein paar Meter, dann bin ich endlich da. Die Luft ist kühl und heute weht ein schneidender Wind, aber das ist mir egal. Alles ist besser, als jetzt gerade in dieser Wohngruppe zu sein. Jede Faser meines Körpers sehnt sich nach diesem Ort hier. Ich habe das Gefühl, schon viel zu lange nicht mehr hier gewesen zu sein, dabei waren es mit Sicherheit nicht mehr als fünf Tage.
Der Boden war am frühen Morgen an manchen Stellen noch gefroren, aber die Sonne bricht hin und wieder durch den grauen Wolkenschleier und lässt den Tag ein wenig freundlicher aussehen, als er sich tatsächlich anfühlt. Ich kann den Sommer kaum erwarten, wenn ich endlich wieder den ganzen Tag hier im Gras liegen und den Vögeln zuhören kann.

Damals. „Du musst lernen, geduldiger zu sein, Schätzchen.“ Mama sieht mich an und in ihren Augen liegt dieser warme, liebevolle Blick. „Alles hat seine Zeit. Es wird irgendwann kommen, das ist ganz sicher, aber bis dahin bringt es nichts, sich darüber zu ärgern, dass es noch nicht da ist.“
Ich atme theatralisch aus und werfe den Kopf in den Nacken. „Aber bis zu meinem Geburtstag ist es noch so lange.“ Ich weiß, dass sie nichts dafür kann, aber ich wünsche mir dieses neue Fahrrad nun schon eine gefühlte Ewigkeit. Noch weitere sechs Wochen bis zu meinem Geburtstag zu warten, fühlt sich an, als würde sie sagen, ich muss warten, bis ich erwachsen bin. Ich weiß nicht genau, wie lange das noch dauert, aber bestimmt länger als ein paar weitere Geburtstage, denn ich bin ja erst sechs.
„Ich weiß, es ist nicht einfach, auf etwas Schönes zu warten. Aber so ist das nun mal im Leben, Süße. Manchmal kann man nichts an den Dingen ändern und muss sich damit abfinden. Aber ich verspreche dir, dass du es bekommen wirst, in Ordnung?“

Heute. Ich habe einen dicken Ast gefunden und ihn in die Mitte der kleinen Lichtung getragen. Ein Quadratmeter Sonnenlicht, mehr gibt es hier nicht, wenn die Bäume wieder Blätter tragen. Aber das ist nicht schlimm. Für Mama und mich hat es immer gereicht.
Ich kauere mich auf den Stamm und ziehe den Schal um meinen Hals ein wenig enger. Es ist kalt und nass, aber immer noch tausend Mal besser, als jetzt schon wieder zurück zur Wohngruppe zu gehen. Am liebsten würde ich gar nicht mehr dorthin zurück.
Manchmal habe ich das Gefühl, vollkommen undankbar zu sein. Diese Menschen haben mich aufgefangen und sich um mich gekümmert, als ich niemanden mehr hatte und trotzdem möchte ich am liebsten gar nichts mit ihnen zu tun haben. Aber ist das so falsch? Kann man mir wirklich vorwerfen, undankbar zu sein, nur weil ich lieber bei meiner Mutter leben würde, als in diesem Heim?

Damals. „Lass uns jetzt nicht mehr über mich reden. Mir geht es gut, mein Schatz. Mich interessiert vielmehr, wie es dir geht. Wie war es in der Schule? Hattest du einen schönen Tag?“ Mama bemüht sich sichtlich, ein fröhliches Gesicht zu machen, aber es funktioniert nicht. Nicht, mit all diesen Schläuchen an ihrem gesamten Körper. Nicht, mit der fahlen Haut, den rissigen Lippen und den glasigen Augen. Manchmal frage ich mich, ob sie weiß, wie sie im Moment aussieht. Falls ja, könnte ich nämlich nicht verstehen, wie sie so darauf beharren kann, es gehe ihr gut.
„Die Schule war gut“, sage ich und umklammere ihre Hand. Das ist eine glatte Lüge, aber ich will sie nicht auch noch mit der Fünf in Mathe belasten. Sie hat im Moment ganz andere Sorgen, zumindest sollte sie die haben. Im Grunde bin ich auch nicht besser als Mama, denke ich. Sie will mich mit ihren Lügen schützen und ich sie mit meinen. Mag sein, dass das etwas ist, was man eigentlich nicht tun sollte, aber mir kommt es richtig vor. Zumindest im Augenblick.
„Wie läuft es zu Hause? Kommst du mit dem Haushalt klar? Du weißt, du kannst auch immer zu Karin oder Tante Julia, wenn du nicht mehr hinterherkommst.“ Die Besorgnis in ihren Augen versetzt mir einen Stich. Es kommt mir so vor, als würde sie sich selbst die Schuld für diese Situation geben. Aber wer kann schon etwas für Krebs?
„Nein, keine Sorge. Ich komme klar. So viel Arbeit ist es auch wieder nicht, ich muss ja schließlich nur für eine Person sorgen“, versuche ich sie zu beruhigen.
Sie nickt und zwingt sich zu einem Lächeln. „Das ist gut. Ich werde bald wieder gesund sein und dann komme ich nach Hause zurück. Ich kann es kaum erwarten, das Essen hier ist eine Katastrophe.“ Ich versuche zu lachen, aber es geht mir irgendwo auf dem Weg verloren.
„Ja, sicher, Mama.“

Heute. Sie kam nicht wieder nach Hause. Das Schlimme ist, dass ich schon gar nicht mehr damit gerechnet habe, dass sie es schaffen würde. Ich habe sie aufgegeben, lange bevor sie den Kampf letztendlich verloren hat.
Der einzige Ort, an dem ich mich ihr nah fühle, ist hier. In unserer Lichtung im Wald, die sonst niemand kennt. Zwischen all den Bäumen, dem goldenen Konfetti und dem Gesang der Vögel.
Als ich erfahren habe, dass ausgerechnet dieses Stück des Waldes in einen Naturerlebnispark umgewandelt werden soll, brach eine Welt für mich zusammen. Bis August habe ich noch Zeit, mich zu verabschieden. Ich fühle mich so machtlos. Es ist doch unser Platz. Mir ist schon bewusst, dass der Besitzer mit seinem Stück Landes machen kann, was er will, aber es ist so ungerecht. Für mich ist es der Ort mit der größten Bedeutung auf dieser Welt und ein anderer Mensch, für den dieser Platz bloß ein gewinnbringendes Stück Land ist, darf ihn mir einfach wegnehmen.

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