Ein Leck

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Anna Katharina, 19 Jahre

Die Halle war riesig, das Ende konnte ich nicht sehen. Sie war unvorstellbar groß. Ihre Grenzen lagen irgendwo im Dunklen. Irgendwie wusste ich natürlich, welche Form sie haben müsste und hätte man mir die Maße gegeben, dann hätte ich offiziell auch gewusst, wie groß sie war. Vorstellen konnte ich es mir dennoch nicht. Nicht so, dass es greifbar geworden wäre.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken, nachdem ich den kleinen Tropfen Wärme auf meinem Haaransatz gespürt hatte. Ich hörte das leise, beinahe klickartige Geräusch des Wassers, das neben mir zu Boden tropfte. Schließlich traf es auch mich auf der Nase. Der Tropfen rollte meine Nase und dann meine Wange hinunter und verschwand dann im Kragen meines T-Shirts. Das Rohr, aus dem das Wasser tropfte, hing genau über mir. Ein kleines Loch, das mit der Zeit aber immer größer zu werden schien. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl etwas zurück. Dennoch spürte ich immer wieder ein kleines Gewicht auf meine Schulter auftreffen.
Ich rutschte den Stuhl aber nicht nach rechts, nicht nach links. Ich ließ ihn genau da, wo er von Anfang an gestanden hatte. Gedankenverloren rieb ich an meinen Handgelenken. Keine Fesseln, nichts hielt mich auf diesem Stuhl. Es war aber viel zu ungemütlich, zu aufwendig und viel zu viel Arbeit, mich von diesem zu erheben, geschweige denn, diesen an eine andere Stelle zu bewegen. Was machten da schon ein paar Tropfen pro Minute. Auf meiner Schulter hatte sich ein etwas dunklerer Fleck gebildet. Als ich mich aber wieder ein wenig vorlehnte, traf mich das Wasser direkt ins Auge.

Lieber wischte ich mir aber diese falsche Träne aus dem Augenwinkel, statt mich zu bewegen. Ruhig, gelangweilt, saß ich auf meinem Stuhl. Mein Fuß wippte mit jedem Klicken eines Tropfens, der auf mich oder auf den Hallenboden fiel. Die winzige Pfütze am Boden war kaum auszumachen. In einer Halle, die so groß war, wie diese hier, verlor sich das Wasser, als wäre es gar nicht hier. Es war so unbedeutend, so wenig und so klein in seiner Menge, dass es mich die meiste Zeit nicht mal interessierte.
Wieder traf ein kleiner Tropfen meine Wange. Als würde ich weinen, rollte er über mein Gesicht und tropfte dann letztendlich doch zu Boden.

Ich hatte den Überblick verloren, wie lange ich hier schon saß. Tage, Wochen, Jahre. Die Zeit war zu einem schmelzenden Eiswürfel geworden, der sich begleitet von einem ständigen dip-dip-dip immer weiter auflöste und sich in einer kleinen, aber nicht mehr ganz so winzigen Pfütze neben meinem Stuhl sammelte.
Ich sah mich um. Meine Gedanken schweiften ebenso umher wie mein Blick. Das ewige Geräusch des Tropfens war aber mittlerweile so vertraut, so oft gehört, dass es mich nicht mehr weiter störte. Ich hatte sogar minutenlang, oder stundenlang – wer wusste das schon? – direkt in das Loch gestarrt, aus dem immer wieder Wasser in meine Augen, auf meine Stirn und Nase tropfte. Ich hatte hineingestarrt und es erkannt. Da war ein Loch. Daraus tropfte es. Es tropfte mich an. Das war mein Gedankengang gewesen.
Dann hatte ich meinen Blick wieder auf die Halle gerichtet, das Wasser tropfte stetig weiter auf meinen Scheitel. Die Halle war ja schließlich groß genug. Das Wasser würde sie niemals füllen. Niemals.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte weiter vor mich hin. Die Tropfen wurden wärmer auf meinem Haaransatz.
Ich richtete meinen Blick für einen Moment wieder auf das Loch. Dip-dip-dip. Meine Sicht war verschwommen von den Tropfen, die in meine Augen fielen und die tatsächlich recht warm geworden waren. Wieder rieb ich mir die Handgelenke und bewegte meine Zehen. Ich konnte das ewige Tropfen wirklich vollkommen ausblenden. Das Rohr, die Halle, alles war irgendwie genauso dahingeschmolzen wie die Zeit. Mittlerweile stand mir das Wasser bis zum Hals.

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