Geisterschiffe

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Anne Zeiß, 24 Jahre

Wir haben ein Monster erschaffen. Und während es uns verschlingt, mit seinen Ausdünstungen vergiftet und uns den Raum zum Atmen nimmt, sind wir unentwegt damit beschäftigt, es noch größer und noch gefährlicher zu machen. Zur gleichen Zeit befinden wir uns in einem immerwährenden Kampf mit dem Monster. Wir verbrennen es, wir graben ihm Höhlen und bauen ihm Bunker, versuchen, es in seine Bestandteile zu zerlegen, doch es ersteht immer wieder auf. Das Monster wird niemals vollständig verschwinden, es ändert nur seine Gestalt, je kleiner und konzentrierter es ist, umso größer die Gefahr, die es ausstrahlt. Weil wir es nicht aus der Welt schaffen können, versuchen wir, es zumindest an einen anderen Platz auf diesem Planeten zu bringen.

Darum sind wir unterwegs, darum bahnt sich die Nueva Gloria ihren Weg durch den Teppich aus Tüten, Bechern, Flaschen und ihren Bestandteilen, durch ein Gewässer, in dem schon lange nichts mehr lebt. Das Meer gehört dem Monster. Es sitzt in den stählernen Fässern, die wir geladen haben. Als wir aufbrachen, strahlten sie silbern glänzend im Sonnenlicht, nun nagt der Rost daran und droht, das Monster freizulassen, vor die Sonne hat sich ein Nebel aus giftigen Dämpfen geschoben. Unzählige Male haben wir die Aufschrift auf den Tonnen geändert, um den Inhalt gewinnbringend oder zumindest harmlos erscheinen zu lassen, doch nirgends lässt man uns an Land, denn jeder weiß, dass sich hinter den vielversprechenden Namen letztendlich das Monster verbirgt.

Auf der Landkarte der Entsorgung gibt es keine weißen Flecken mehr, doch auf unserer Haut tauchen immer neue auf. Die Besatzung, die beim Ablegen der Nueva Gloria vor Kraft und Selbstbewusstsein strotzte, ist zu einem Häufchen Elend verkümmert. Keiner von uns hat mehr Haare am Körper. Aus den Matrosenliedern und dem Lachen ist eine gespenstische Stille geworden, die nur noch von rasselndem Atem und Hustenanfällen unterbrochen wird. Wenn wir gerade nichts zu tun haben, sitzen wir lethargisch herum und kämpfen gegen den Juckreiz unserer Ausschläge an.

Das Monster hat sich seinen Weg aus den Fässern gebahnt und schleichend Besitz von uns ergriffen. Zweien von uns hat es bereits das Leben ausgesaugt. Wir haben sie über Bord geworfen, so, wie wir es auch mit den Kunststoffhüllen unserer im Labor hergestellten, einzeln portionierten Mahlzeiten tun. In einer Welt aus Wegwerfprodukten ist auch der Mensch zum Wegwerfprodukt geworden. Nichts hat mehr einen Wert, auch nicht ein Leben. Aus unserem Auftrag, unsere Fracht an einen anderen Ort zu bringen, ist längst die Mission unserer eigenen Entsorgung geworden. Wir wissen, dass wir unser Zuhause nie wieder sehen werden. Wir sind kontaminiert, wir sind zu einem Teil des Monsters geworden und damit selbst zu einer Gefahr für diejenigen, die wir mit unserer Reise vor den Fangarmen des Monsters und seinem todbringenden Atem schützen.
Uns bliebe ohnehin nicht mehr viel Zeit mit ihnen. Unsere Kräfte schwinden, trotz der wohldosierten verschweißten Nährstoffportionen, die uns am Leben erhalten. Wie durch ein Wunder sind sie uns noch nicht ausgegangen. Wir hätten gleich skeptisch werden müssen, als wir die Unmengen künstlich gezüchteter Nahrungsmittel an Bord sahen. Es war weit mehr, als für einen einfachen Auftrag, Waren zu verschiffen, jemals hätte nötig sein können. Doch erst nach und nach, als uns ein Hafen nach dem anderen versagte, anzulegen, und wir immer neue Befehle erhielten, die Deklaration unserer ungeliebten Fracht zu ändern, dämmerte uns die Wahrheit. Wir hatten geglaubt, an unserem Bestimmungsort erwarte jemand sehnlichst den Inhalt der Stahlfässer in unserem Laderaum, doch mit der Zeit mussten wir erkennen, dass wir etwas transportieren, dass niemand haben will. Man hatte uns mit dem Monster auf einem Schiff eingesperrt und uns mit ihm gemeinsam ausgestoßen.

Nachdem wir die ganze Welt umsegelt haben, hat man uns nun ein endgültiges Ziel genannt. Diesmal brauchen wir die Aufschrift auf den rostigen Tonnen nicht zu ändern, denn an dem letzten Ort, den wir aufsuchen werden, gibt es niemanden, der uns verweigern könnte, unsere tödliche Ladung zu löschen. Die Insel, auf die wir Kurs halten, gehört bereits allein dem Monster. Es hat sich soweit ausgebreitet, dass es alles Leben vertrieben hat. Die Flüchtenden kamen in Scharen, sie suchten bei uns Schutz vor dem Monster, das wir in ihrer Heimat ausgesetzt haben. Nun bringen wir auch das Monster in unserem Frachtraum nach Hause und uns selbst in unser Grab. Zu lange hat das Monster auf diesem Schiff gewohnt und wir mit ihm zusammen, als dass einer von uns sich jemals wieder in von Menschen bewohntes Gebiet begeben könnte.

Unser Ausguck verkündet Land in Sicht. Noch heute endet unsere Reise, noch an diesem Tag werden wir die Fässer auf die Insel rollen und zum ersten Mal seit drei Jahren festen Boden unter den Füßen spüren, doch er wird uns keine Sicherheit geben. Wir werden uns einen Platz zwischen all dem Unrat der Zivilisation suchen, der auf diese Insel verbannt wurde, und auf das Ende warten. Die Wassermasse um uns herum steigt unaufhörlich und irgendwann wird sie sich die Insel holen und sie in sich aufnehmen. Die Nueva Gloria wird ohne ihre Besatzung weitertreiben, ein totes Schiff in einem toten Meer.

Ein Sonnenstrahl dringt zu uns durch, der Nebel lichtet sich ein wenig und überall um uns herum tauchen die Segel weiterer Schiffe auf, die ebenfalls auf die Insel-Deponie zusteuern, deren von Menschen aufgetürmte Berge vor uns in den grauen Himmel ragen. Wir sind nicht mehr allein, wir sind Teil einer Flotte von Geisterschiffen, die alle ein und dasselbe Ziel ansteuern. Ich frage mich, ob wir weiter nach Orten für unseren Müll suchen sollten oder ob es nicht an der Zeit ist, neue Orte für uns Menschen zu suchen, an denen wir vor ihm sicher sind.

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Autorin / Autor: Anne Zeiß, 24 Jahre