Sommertagswolke

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Philipp A., 25 Jahre

Es war ein schöner Sommersonntag, als Max in seiner bayerischen Heimatstadt zu Gast war. Trotz des guten Wetters flanierten nicht allzu viele Personen entlang der Hauptstraße der Innenstadt. Da wo sonst hektische Betriebsamkeit herrscht und freitagnachts das große Schaulaufen der Jugend stattfindet, schien an jenem Tag selbst das markante städtische Kopfsteinpflaster Erholung zu atmen. Für eine Großstadt im Ganzen eher sachte ging es hier in die Mittagszeit. Sicher, als Max von der Sitzbank aufsah und genauer hinsah, bewegte sich dort drüben eine Gruppe junger Frauen, etwas weiter weg passierten zwei Männer die Straße und, soweit es sich für ihn erkennen ließ, schien die Straße am anderen Ende etwas belebter zu sein. Für den Moment aber war ihm die Ruhe ganz recht. So konnte er besser darüber nachdenken, wie sich seine Stadt verändert hatte. Ob zum Guten oder Schlechten, hier war er noch zu keiner Bewertung gekommen. Er wollte sich aber, auch das einer der Gedanken des Studenten, auf keinen Fall allein wegen des schönen Wetters zu einem positiven Urteil hinreißen lassen. Er gab sich deshalb noch ein paar Minuten.

Aus diesen Gedanken riss ihn aber schon bald ein gebückter Mann, der nicht weit von ihm um die Ecke bog und sich lautstark und wiederholt räusperte. Max schaute zu ihm, der alte Mann erwiderte den Blick jedoch nicht. Streng arbeitete er sich den breiten Gehweg vor in Richtung Stadtzentrum, Max passierend und zum Ziel immer wieder aufblickend. Max beobachtete ihn noch einen Moment anerkennend, dann begann die nahe Kirchglocke zu St. Ulrich den Gottesdienst auszuläuten. Nicht zuletzt das rief ihm in Erinnerung, jetzt den Weg zu Elternhaus und Mittagstisch anzutreten. Er erhob sich und kreuzte die breite Straße, um zu seinem Fahrrad gelangen, das er ein Stück weiter stadteinwärts abgestellt hatte. Ein kleines Wolkenbild vor der Sonne deckte die Straße nun mit seinen anliegenden bunten Altstadthäusern in dunklere Farbtöne. Max lief schnellen Schrittes.

„Hey Bursche! Mensch das gibt’s ja nicht.“ Max sah sich um. Aus einem langsam fahrenden schwarzen Auto ein paar Meter weiter rief eine Männerstimme in seine Richtung. Der Mann fuhr näher an den Bordstein und Max trat an das heruntergelassene Beifahrerfenster. „Mensch, Max: Dich hab‘ ich hier ja schon ewig nicht mehr geseh’n! Was macht die Hauptstadt, bist‘ schon ein Preuße?“, begrüßte der Mann auf dem Fahrersitz augenzwinkernd. „Hallo Konstantin. Schön dich zu sehen! Ich hoffe dir geht’s gut?“, antwortete Max. „Bestens, bestens“, kam von ihm und Konstantin wedelte mit seiner linken Hand lässig vom Lenkrad. Max und er waren einander eigentlich nicht allzu vertraut. Zu Jugendzeiten hatten sie sich kennengelernt, in der Oberstufe muss das gewesen sein. Konstantin war einer der Leute, die man kennt – ohne zu wissen, woher genau. Beide kamen gut miteinander klar, hatten aber keine gemeinsamen Freunde und sahen sich so immer nur zufällig.

Konstantin war sicher mehr Lebemann als Max und trieb es manchmal im Scherz zu weit. Im Grunde war er aber kein schlechter Kerl, soweit Max das beurteilen konnte. „Na, jetz‘ sag‘ schon: Berlin, taugt des was? Hängen da immer noch so viele kaputte Leut‘ in der U-Bahn ‘rum… bei dir fehlt auch nicht mehr viel bis zum halben Junkie, heh?“, lächelte Konstantin schräg. Max kannte diese Halbsätze von Konstantin und nahm sie gelassen. „Es passt schon. Die machen sich mittlerweile in Berlin.“ Max war unter Leuten schon immer Diplomat gewesen. Einstecken, austeilen, und zurück: Das war nicht seine Welt und er erwiderte solche Seitenhiebe fast nie. Seit jeher fiel es ihm schwer zu kritisieren – nichts hasste er mehr als Konfrontationen. Die beiden redeten noch weiter, denn Konstantin wollte noch einiges wissen über das Leben in der Hauptstadt. Er gab sich dabei freundlich, ja fast schon ernsthaft interessiert. Also erzählte Max. Doch irgendetwas stimmte nicht mehr.

Es war zuerst nur wie ein unterbewusster Zuruf aus der Ferne, der seinen Ruflaut bereits verloren hatte: hell, aber schwach und undeutlich – nur als Ahnung auszumachen. Max sah kurz auf. Zwei Stadttauben flogen davon. Max erzählte weiter von seiner einmaligen Erfahrung im Nachtclub ‚Berghain‘. Seine Stimmung trübte sich zunehmend. Aber den Abend hatte er doch eigentlich gar nicht so schlecht in Erinnerung? Konstantin fand es zum Lachen. Der rutschte nun selbst etwas unruhiger auf dem Sitz hin und her. Spürte er es? Konstantin öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Nein, dachte Max enttäuscht, Konstantin wollte nun einfach nur selbst erzählen, deswegen die Anzeichen. Max sah kurz auf und holte Luft. Dann begann Konstantin. Der erzählte zuerst von neuen Arbeitskollegen und einer Firmenfeier – mit eher mäßiger Pointe. Max verlegte sein Standgewicht auf den linken Fuß und zurück. Mit der linken Hand griff er jetzt mehrmals den Fensterrahmen der Beifahrertür ab.

Konstantin redete jetzt von einem Bierzeltbesuch. Wieder konnte Max über keine Anekdote lachen, gab es eine? Aber er sah nun den Bauchansatz und die schlechte Haut, die sich bei Konstantin zeigten. Max konzentrierte sich kaum noch auf dessen Geschichte. Er begann jetzt zu auf seinen Fußballen zu wippen, zunehmend unruhiger. Nur noch vereinzelt hörte er „Augsburg“, „Frauen“, „weg“, das Wort „weg“ hörte er öfter. Max biss sich auf die Unterlippe. Da zog sich endlich eine Falte über Konstantins Stirn. Jetzt endlich, dachte Max? Aber dann schnalzte Konstantin mit der Zunge. Nein – das war nun gar nicht mehr freundlich – der will doch provozieren? Hat er’s jetzt dann bald? Gar nicht mehr freundlich, dachte Max, fast dreist! Zuerst die eine Geschichte, dann die… –
„Sag mal Max, ist irgend’was?“
Und der brach hervor: „Ja, Mensch, mach‘ doch endlich mal den Motor aus, wenn wir schon stehen!“

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Autorin / Autor: Philipp A., 25 Jahre