Liebe Sascha

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Julie G., 23 Jahre

Es ist lange her, dass ich Dir geschrieben habe. Neoptolemus I befindet sich mittlerweile nur noch wenige Millionen Kilometer vom Saturn entfernt, dafür Hunderte Millionen von Dir. Ich hoffe, es geht Dir gut daheim auf der Erde. Ich verfolge nach wie vor täglich die Nachrichten. Die Unwetter machen mir Sorgen, aber natürlich sind sie unbegründet. Der STAAT weiß Euch schon zu beschützen, das muss man ihm lassen.

Auch hier oben hat er alles im Griff und das Experiment läuft weiterhin wie geschmiert. Es wird schon von Ausweitung geredet. Von Neoptolemus X, der zehn Städte beinhalten soll. Manche plädieren für Hera I, eine Raumstation für ein ganzes Land, aber die meisten machen sich Sorgen, dass das in den Menschen alte Anflüge von Nationalismus wecken könnte, nachdem wir uns nun endlich von solchem Denken entfernt haben.

Und dann gibt es da noch die altbekannte Planetendiskussion. In den letzten Monaten scheint sich jedoch endlich eine Tendenz herauskristallisiert zu haben; der Großteil der Denker befürwortet die Fortführung und Expansion auf Raumschiffbasis auf längere Sicht. Offiziell heißt es, die jüngste Welle von Tsunamis auf der Erde habe geholfen, die Stimmen für die Besiedlung eines Planeten zu dämpfen. Es habe die düstere Lage auf der Erde verdeutlicht und klar wie nie demonstriert, was mit Planeten passiert, die wir besiedeln.

Wenn Du mich fragst, ist das vollkommener Schwachsinn. Die Tsunamis waren bei weitem nicht die verheerendsten, die die Erde in den vergangenen Jahren erlitten hat, warum sollte das solch einen plötzlichen Sinneswandel bei so vielen überzeugten Besiedlern ausgelöst haben? Wenn diese Situation etwas verdeutlicht, dann sind es die Gründe für meine Besorgnis. Dieses Gerede von Umwelt kann nur ein Deckmantel sein. Die ganze Heuchelei von wegen, den Teufelskreis durchbrechen, bevor er sich fortsetzt. Es würde auf einem neuen Planeten ja doch nur alles von vorne anfangen, meinte Li gestern auf der öffentlichen Konferenz. In ein paar Tausend Jahren würden wir uns wieder in einer Raumstation aus dem Staub machen, in dem ein zerstörter Planet zurückbleibt, dem frühen Ende geweiht. Das alles aus Lis Mund! Dass ich nicht lache. Ich erinnere mich noch gut an seinen Vortrag zu potentiellen besiedelbaren Planeten innerhalb und außerhalb unseres Sonnensystems vor wenigen Monaten.

Meine Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten. Zumindest wächst die Zahl der Indizien ständig. Nicht, dass ich etwas ausrichten könnte, selbst wenn ich es versuchte. Für eine Revolution bin ich ohnehin zu alt. Ein einzelner seniler Spinner, der sich näher am Saturn als an der Erde befindet, kann wenig bewegen. Die Aufteilung von Menschen in Raumstationen ist ein kluger Schachzug, wenn man absolute Kontrolle ausüben will. Die ID-Chips gibt es natürlich auch auf der Erde, aber Du musst bedenken, dass es auf Neoptolemus I keinen einzigen Fleck gibt, der nicht durch Überwachungskameras, Sensoren oder Mikrofone überwacht werden kann. Ein solches Maß an Kontrolle kann nur an einem Ort existieren, der vollkommen von Menschenhand erschaffen wurde. Je mehr Natur, desto weniger Kontrolle.

Wer weiß, ob der STAAT ehrenwerte Ansichten hat, ob er aus Überzeugung handelt oder aus Machtlust. Ich weiß es nicht, aber ich bin mir sicher, dass er die Menschen nicht aus Sorge um die Natur in Raumstationen aufteilen und dort halten will wie Vieh.

Ach, Sascha. Ich weiß nicht mehr, wohin mit mir. Schert den STAAT die Umwelt? Sicher nicht. Aber mich, mich schert sie, Sascha. Bei dem Gedanken an die Erde tut mir das Herz weh. Bei dem Gedanken daran, dass wir uns einen neuen Planeten aussuchen und das ganze Spiel dort von Neuem losgeht, schaudert es mich. Diese Denker mögen selbst nicht von ihren Reden überzeugt sein, aber ich bin es. Ob aufrichtig oder nicht, sie haben recht. Das ist das Schlimmste an der ganzen Sache. Sie haben recht. Es ist ein verdammter Teufelskreis. Und deshalb würde ich nichts tun, selbst wenn ich könnte.

Und wenn ich versuchte, so eine Nachricht abzuschicken – was wäre der Nutzen? Sie würde Dich nicht erreichen und ich, ich hätte große, große Schwierigkeiten am Hals. Es ist traurig, Sascha. Ich hätte Dir gern mein Herz ausgeschüttet. Ich hoffe mit ganzer Seele, dass wir uns irgendwann einmal wiedersehen.


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Liebe Sascha,

Es ist lange her, dass ich Dir geschrieben habe. Neoptolemus I befindet sich mittlerweile nur noch wenige Millionen Kilometer vom Saturn entfernt, dafür Hunderte Millionen von Dir. Ich hoffe, es geht Dir gut daheim auf der Erde. Ich denke immer an Dich und hoffentlich hast auch Du mich nicht vergessen. Ich würde mich sehr über eine Nachricht von Dir freuen!

In Liebe,
Dein Alexei

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Autorin / Autor: Julie G., 23 Jahre