Mein Leben ist Müll

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von von Johanna Mechel, 12 Jahre

6 Jahre zuvor
„Mama, wo gehen wir hin?“ „An einen besseren Ort, an dem ich Geld verdienen kann. Damit wir etwas zu essen haben“ „Kann ich da zur Schule gehen?“ „Vielleicht.“ „Dann kann ich vielleicht lesen!“ „Wenn du dich anstrengst“ „Okay.“ „Aber du musst mir versprechen, dass du dich auch um deinen Bruder kümmerst, damit ich arbeiten kann.“ „Mach ich, Mama.“ „Versprochen?“ „Versprochen, Mama. Versprochen..“

Ein neuer Tag beginnt. Ich stöhne und reibe mir meine Augen. Mein sechs Jahre jüngerer Bruder ist offensichtlich schon wach und spielt mit ein paar Nachbarskindern „Fußball“. Nun ja, Fußball kann man das nicht nennen. Mit einem zerbissenen Tennisball schießen die Jungen auf ein Tor aus zwei zerbeulten Konservendosen. Langsam setzte ich mich auf und blinzle in die Sonne, als mir ein wohlbekannter, beißender Geruch in die Nase steigt. Der Geruch den ich nun seit meinem zehnten Lebensjahr gewöhnt bin. Den Geruch der gigantischen Müllkippe, auf der wir Tonnen von Müll sortierten. Nur so kann sich meine Familie halbwegs vor dem Verhungern retten.
Ich sehe mich langsam um und entdeckte einen nur leicht braunen Apfel auf dem Tisch, den sicherlich meine Mutter für mich hingelegt hatte. Dann fällt mein Blick jedoch auf meinen Bruder. Eigentlich hatte ich doch gar nicht so großen Hunger, vielleicht sollte ich ihm heute mal mein Essen geben. Er sieht für sein junges Alter schon so abgemagert aus! Vermutlich sehe ich mit meinen 16 Jahren in meinem alten Achselshirt und den zu großen Shorts auch nicht anders aus.
Wieder stöhnte ich. Warum, Leben? Warum er? Warum ich? Warum ausgerechnet wir? Ich lasse mein Frühstück auf dem Tisch liegen, winke meinem Bruder zum Abschied und begebe mich auf den Weg zur Arbeit, die praktischerweise direkt vor meiner Tür liegt. Beim Rausgehen greife ich mir einen schwarzen Müllsack, der an einem der beiden Holzpfeiler liegt, die unser Dach stützen. Wenn man eine Plastikplane als Dach zählen kann.

Vor der Tür angekommen, den Müllsack fest in der Hand, merke ich, dass mir schwindelig wird. Ich halte mich an dem fest, an dem kurz zuvor noch der Sack lag und blinzle, um die schwarzen Punkte vor meinen Augen zu vertreiben. Nahrungsmangel. Kenne ich schon. Nichts Seltenes. Nach ein paar Minuten setze ich meinen Weg fort und begegne einigen Nachbarn, die gleichzeitig „Kollegen“ sind. Alle haben Müllsäcke in der Hand. Alle leben von diesem Müll hier.
Um ehrlich zu sein kenne ich die meisten gar nicht, immerhin leben hier fast 5000 Menschen. Hier, in meiner „Heimat“. Aber sollte Heimat nicht etwas sein, das man liebt? Ist doch auch egal.

Wütend kicke ich einen kleinen Stoffbären weg, an den definitiv schon Hunde gepisst haben. Wieder sehe ich schwarze Punkte. Scheiß Hunger, scheiß Müll, scheiß Leben, scheiß Arbeit.
Halbherzig beginne ich mit meiner Arbeit, sammle alles was nach Papier aussieht in meinen Sack. In anderen Ländern würde ich jetzt noch zur Schule gehen. Müsste ich jetzt noch zur Schule gehen. Aber hier muss ich Geld verdienen. Seit mein Vater vor einem Jahr gestorben ist, helfe ich meiner Mutter. Auch wenn ich an einem Tag vielleicht nur 3 Euro verdiene, ist das besser als nichts. Von hier komme ich eh nicht weg! Leben vom Müll anderer! Leben auf einer Müllhalde! Leben in Armut! Leben in meiner persönlichen Hölle!
Moment! Was ist das? Zwischen einigen alten Zeitungen entdecke ich einen Flyer. Vorsichtig hebe ich ihn auf und betrachte das Papier näher. Auf einem großen Bild sehe ich einen kleinen Teil vom Meer und dahinter mindestens genauso viel Müll wie hier bei uns. Und wieder geht mir diese eine Frage durch den Kopf, die ich mir öfters stelle: Wie ist der Mensch zu so etwas fähig? Wieso müllt er unsere Umwelt dermaßen voll? Ist sie ihm egal? Oder merkt der normale Mensch des 21. Jahrhunderts nicht, was für einen Schaden er anrichtet? Wieviel Plastik er einfach auf Wiesen und in Meere schmeißt?

Aber vielleicht erscheint ihm auch alles einfach nur unwirklich, solange er die Umweltverschmutzung nicht am eigenen Leib erfährt? So wie ich. So wie mein Bruder. So wie alle Menschen, die ich weit und breit sehen kann.
Die Menschen bringen ihren Müll an Orte wie mein zweifelhaftes Zuhause, das Meer oder in den Wald. Von außen bewahren sie den Schein, dass alles gut ist. Selbst mir ist aufgefallen, dass es langsam wärmer wird. Und doch gibt es immer noch Leute, die die Klimaerwärmung anzweifeln.
Traurig, einfach nur traurig. Mir fällt auf, dass ich unbewusst auf die Spitze eines Müllbergs geklettert bin. Weit und breit nur Müll zu sehen, den arme Leute mühsam sortieren. In meinem Innersten weiß ich, dass sie nie alles schaffen werden, egal wie viele es sind. Der Mensch ist krank, er macht unsere Umwelt krank.
Plötzlich fasse ich einen Entschluss. Ich komme hier raus! Ich werde Menschen auf etwas wie diesen Ort hier aufmerksam machen! Ich werde meinem Bruder helfen zu überleben! Ich werde weiter lernen zu lesen, mithilfe des weggeschmissenen Altpapiers! Ich werde versuchen den Klimawandel zu verringern! Denn aufhalten kann ihn niemand mehr.
„Ich schaffe das. Meine Kinder sollen etwas anderes kennenlernen als das hier!“, murmle ich zu mir selbst, greife in meinen blauen Beutel und beginne sitzend die Tageszeitung von letzter Woche zu studieren.

6 Jahre später
„Geh nicht, Junge.“ „Ich gehe arbeiten. So kann ich für meinen Bruder sorgen. Für dich sorgen. Uns hier rausholen.“ „Wohin gehst du arbeiten?“ „Zu einer Organisation, die versucht die Erde von dem ganzen Müll zu schützen, Mama. Mit Flyern, den Internet und Kampagnen.“ „Dafür ist es zu spät, Liebling. Dafür ist es zu spät. Der Mensch hat wortwörtlich Müll gemacht.“

Mehr Infos zum Schreibwettbewerb