Der Junge auf dem roten Planeten

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Sibel Tezkan, 25 Jahre

Sie sagten ihm, dass sie fliehen mussten. Sie sagten ihm, dass die Menschheit überleben musste. Sie sagten ihm, dass es notwendig gewesen war.
Sie wussten nicht, dass sie sterben würden.

Der Junge greift nach der Hand der Mutter. Ihre Hand ist blass und eingefallen. Kalt. Wäre da nicht das beständige Piepen des Monitors, an dem die Mutter angeschlossen ist, dann würde er sie für tot halten. Aber das ist sie ja beinahe.
Seine Hand zittert und Tränen steigen in seine Augen. Mit dem blauen Ärmel seines Hemdes wischt er sie beiseite. Die Ärzte sagten, dass die Mutter Krebs habe. Dass es nicht mehr lange dauern würde. Was, fragte er, was würde nicht mehr lange dauern? Daraufhin schauten die Ärzte weg, und der Vater schob ihn beiseite. Eine Antwort bekam er nicht.
Als der Vater später ein vertrauliches Gespräch mit den Ärzten führte, hatte er sich angeschlichen und gelauscht. Er erfuhr, was man ihm nicht sagen wollte, und noch viel mehr. Die kosmische Strahlung, meinten die Ärzte, sei hier viel höher als auf der Erde. Trotz der Sicherheitsvorkehrungen hätte die Mutter zu viel Strahlung abbekommen. Es täte ihnen leid, sagten sie, aber es gäbe nichts, das sie tun könnten.

Der Junge blickt an der Mutter in dem weißen Bett vorbei zu den stahlgrauen Wänden. Zwischen solchen Wänden war er aufgewachsen und hatte gespielt, aber herausgehen an die Luft, das durfte er nie. Es ist zu deiner Sicherheit, sagte die Mutter. Und so war er drinnen geblieben, in dem kleinen gepanzerten Bunker, den sie Neuheimat nannten.
Manchmal, wenn der Vater weg war, dann holte die Mutter unter dem Bett ein großes Bilderbuch hervor und nahm ihn in die Arme. Gemeinsam schauten sie sich die Bilder an, Bilder voll grüner Wälder und blauer Ozeane und einem Himmel, so weit und blau, dass er oft davon träumte.
Der Himmel hier ist anders. Hellorange oder rosa und so beklemmend. Wenn er das Bilderbuch betrachtete, dass die Mutter von dem blauen Planeten mitgebracht hatte, dann fragte er sich, warum man eine so schöne Welt zurückgelassen hatte. Warum man einen so wunderschönen Planeten hatte zerstören müssen.
Einmal, es war schon sehr spät gewesen, da fragte er die Mutter danach. Lange Zeit schwieg sie und lange Zeit starrte sie auf die aufgeschlagene Seite des Buches. Auf der einen Seite waren Tiere zu sehen. Kaninchen, Rehe, Wölfe und Vögel. Der Junge kannte sie nur vom Namen her und auch nur, weil die Mutter sie ihm verraten hatte, aber die Begriffe waren ihm dennoch fremd und befremdlich. Was das sei, hatte er die Mutter gefragt, als er das Bild zum ersten Mal gesehen hatte. Daraufhin hatte sie gelächelt. Es sind Tiere, hatte sie geantwortet, Lebewesen, wie wir es sind, die aber nicht denken oder sprechen können. Manche Tiere, hatte sie erklärt, waren Haustiere gewesen, andere dagegen hatte man geschlachtet und gegessen. Der Junge war geschockt gewesen. Ob man Hunger gelitten hätte, hatte er von der Mutter wissen wollen. Ob sie deswegen die Tiere hätten essen müssen. Sie hatte verneint. Einfach nur so, hatte sie gemeint.
Einfach nur so. Die Worte treffen den Jungen noch heute tief.

Auf der anderen Seite des aufgeschlagenen Bilderbuches war der Ozean. Eine riesige, blaue Wasseransammlung, die am Horizont von einem strahlend blauen Himmel geschnitten wurde. Das war sein Lieblingsbild und auch der Grund, warum er die Mutter fragte, wie man von solch einem wunderschönen und blauen Ort hatte fliehen können.
Doch die Mutter blieb stumm.
Irgendwann, da begann schon die Geisterstunde, da atmete sie schließlich tief aus. Sie strich ihm über die Haare. Küsste ihn auf die rechte Schläfe. Schloss das Bilderbuch. Dann stand sie auf, legte ihn auf das Bett und deckte ihn zu. Wünschte ihm eine gute Nacht. Das Buch aber schob sie nicht, wie sonst immer, unter das Bett, sondern nahm es mit, als sie wegging.
Seitdem hat er das Buch nicht wiedergesehen.
Am nächsten Tag aber, als der Vater wieder weg war, da legte sie die Hände auf seine Schultern und blickte ihm tief in die Augen.

Wir haben unseren Planeten zerstört, flüsterte sie, wir wollten mehr und mehr, wir waren gierig und boshaft und mussten den Preis dafür zahlen. Wir verrieten die Welt, die uns schuf, weil wir nicht bereit waren, uns für sie einzusetzen. Wir töteten die Tiere, wir töteten die Wälder und schließlich töteten wir die Meere. Ein Teil von uns ist geflohen, um hier eine neue Existenz aufzubauen, die die Menschheit retten würde.
Dann seufzte sie tief und stand auf. Sie war schon aus dem Zimmer gegangen, als sie noch einmal am Türrahmen erschien und ihn mit unsagbar traurigen Augen musterte. Wir sollten ein Anfang sein, wisperte sie, doch in Wahrheit sind wir das Ende.

Einen Monat später ist die Mutter plötzlich krank geworden. Eine Grippe, nichts weiter, beruhigte sie ihn. Und jetzt, Wochen später, liegt die Mutter wie tot auf dem weißen Bett inmitten der stahlgrauen Wände und der Junge hält schluchzend ihre kalte Hand. Das Piepen des Monitors echot im Raum und in seinem Kopf, dennoch ist es merkwürdig still. Als wenn das Piepen die Stille nicht vertreibt, sondern nur untermauert.
Der Junge trägt das blaue Hemd, das die Mutter so mag. Er hofft, dass sie wieder aufwacht. Er hofft, dass das Erste, das sie dann sieht, das Blau ihrer Heimat ist und nicht das Grau der Neuheimat.
Er hofft vergeblich.
Eine Woche später, ohne noch einmal die Augen zu öffnen, verstirbt die Mutter.

Sie sagten ihm, dass es keinen Ausweg gegeben hatte. Sie sagten ihm, dass die Zerstörung unaufhaltsam gewesen war. Sie sagten ihm, dass es nichts gegeben hatte, dass sie hätten tun können.
Doch sie sagten ihm nicht, dass sie ihre Welt selbst zerstört hatten.

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