Sonnenuntergang

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Rike Richstein, 23 Jahre

2018
An diesem Frühlingstag, dort hinten am See, saßen Menschen, die weder gut noch schlecht waren. Sie waren viel zu jung, um wirklich zu wissen, wie die Welt war, auch wenn sie dachten, sie wüssten es. Und sie waren sich absolut sicher, dass alle, die sagten, sie wüssten es, es in Wirklichkeit nicht wussten. Sie saßen inmitten der Zeit und am Ende des Abends, tranken mittelguten Wein und führten Gespräche darüber, wie das Leben war. Die Frau mit dem Pferdeschwanz seufzte zu viel und dachte zu viel nach, der Mann mit der Gitarre konnte gut tanzen, obwohl es keiner der anderen wusste, und die Person mit dem Kleid, das die Farbe des Sees hatte, träumte vom Fliegen. Am Horizont endete die Welt. Sie hatten alle in der Schule gelernt, dass es nur so aussah und es hinter den Bergen in Wirklichkeit weiterging, aber keiner von ihnen war je dorthin gewandert, um nachzusehen und so kam es, dass sie alle nicht wussten, dass es nicht nur so aussah, sondern die Welt dort tatsächlich endete. Aber wenn das Ende fern liegt, dann stört es einen ohnehin nicht.

Als der Mann eine Frage stellte, gerade als ein Vogel vor ihnen im Wasser landete, verstummten die beiden anderen. Manchmal ist die Erkenntnis erschreckend, wie viele Fragen man nicht beantworten kann. Sie wussten nicht, dass es noch viel erschreckender sein würde, wenn sie alt sein würden und sie sie immer noch nicht beantworten konnten. Dabei dachten sie alle, dass man mit dem Alter klüger wurde. Doch klug sein und alle Fragen beantworten zu können ist nicht dasselbe. Aber weil sie es nicht wussten, kümmerten sie sich nicht darum. Stattdessen suchten sie im Jetzt nach Fragen, die sie stellen konnten, auf die Antworten, die sie sich gegenseitig zu geben glaubten.
Sie fanden nichts. Und davon zu viel.

Ein vierter stieß zu ihnen. Er war weit gereist und doch nicht herumgekommen, liebte Zitroneneis und hasste das Theater. Er erzählte nichts davon. Stattdessen nahm er dankend einen Schluck von dem Wein, blickte etwas zu lange in Richtung Ende der Welt, bevor er sich setzte und lachte dann über etwas, dass die Frau mit dem Pferdeschwanz gesagt hatte. Der Mann mit der Gitarre rückte seine Brille zurecht und streckte seine Nase in den letzten Sonnenstrahl. Das Mädchen mit dem seefarbenen Kleid hatte bei jedem Sonnenuntergang Angst, dass die Sonne nie wieder zurückkehren würde. Aber es war keine Angst von der Sorte, die einem die Kehle zuschnürt oder einen das Atmen vergessen lässt. Es war eine alberne, unbegründete Angst, die sich nicht aus der hintersten Ecke ihres Herzens verscheuchen ließ. Nicht einmal vom Sonnenaufgang. Sie lächelte. Der Wein war warm geworden in ihrer Hand. Der See war kalt. Sie beteiligte sich wieder an dem Gespräch der anderen über das Leben. Die Stille sang.
Und obwohl die Welt dort hinten endete, obwohl sie nicht alle Fragen beantworten konnten und nur fälschlicherweise dachten, sie wüssten wie das Leben war, obwohl sie manche Dinge zu viel und manche zu wenig getan hatten, waren sie glücklich an dem Abend an dem See mit dem mittelguten Wein und sich selbst. So glücklich wie man es nur sein kann.

3018
An diesem Frühlingstag dort hinten am See ist Stille bleiern. Niemand erinnert sich an die vier Menschen, die vor langer Zeit dort gesessen haben und für die sich ihre kleinen Leben so groß angefühlt haben.
Es gibt niemand mehr, der sich erinnern kann. Und so sind wir alle am Ende dann doch bedeutungslos geworden. Und niemand außer uns selbst ist Schuld daran.

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