Die Schatten der Vergangenheit

Beitrag von Anna-Lena Eißler, 12 Jahre

Ich legte meine Hand auf die kühle und glatte Oberfläche der Scheibe. Ein leises Vibrieren sagte mir, dass meine Fingerabdrücke erfolgreich gescannt worden waren. Ich musste nicht unbedingt hinsehen, um zu wissen, dass gerade die Rollläden draußen vor dem Fenster zur Seite fuhren und den Blick auf ein Meer von tristen, grauen Hochhäuser freigaben. Der Himmel war zwar wolkenlos blau, doch das änderte nichts an der trüben Stimmung, die hier überall in der Luft hing. Laute Stimmen drangen von unten an mein Ohr und ich warf einen kurzen Blick in die Tiefe, nur um dann den Kopf zu heben und weg zusehen. Zu schrecklich war das Bild, das sich mir bot. Ein kleiner Junge von noch nicht einmal elf Jahren in Mitten einer Ansammlung aus Menschen, die ohne einen Hauch Mitleid auf ihn ein prügelten. Und das Alles nur, weil der Junge, anders als sie, nicht perfekt war. Schon vom hier oben konnte ich erkennen, dass sein linkes Bein verkrüppelt war. Der kleine wehrte sich nicht. Anscheinend war ihm klar, dass er keine Chance hatte. Er warf einen bettelnden Blick zum Himmel hinauf, als hoffte er, dort Rettung zu erlangen. Als weiterhin nichts geschah und sich nur noch weitere Schläge in seinen schlanken Körper bohrten, senkte er den Kopf wieder. Dabei begegneten sich unsere Blicke. Ich weiß, dass es eigentlich unmöglich ist, aber es war so. In seinen dunklen Augen lag ein bettelnder Ausdruck. Ohne Worte wusste ich, was er mir sagen wollte: ich bin genau so wie du! Hilf mir. Ich wandte mich ab. Ich konnte ihm nicht helfen, es war aussichtslos, den unbändigen Zorn der Menge zu mildern.
Ich nahm meine Hand von dem kühlen Glas und fuhr damit über mein Gesicht. Die eine Seite war glatt und ebenmäßig perfekt. Die andere Seite war zerfurcht von wulstigen, roten Narben und das Auge trüb und blind. Ich war ein missglücktes Experiment, das danach einfach hätte entsorgt werden sollen, wäre da nicht mein Bruder gewesen. Nicholas war sieben Jahre älter als ich und dank der Genveränderung nach außen hin perfekt. Doch im Gegensatz zu den anderen leeren Hüllen der Menschen besaß er noch Menschlichkeit und davon nicht wenig. Er war es gewesen, der mich damals gerettet hatte und tat dies auch weiterhin Tag für Tag.
Just in diesem Moment ging die Tür auf und ein bleicher, dunkel haariger Junge kam ins Zimmer herein gestürmt. „Seelenlose Volltrottel“, war das erste, was er sagte. Natürlich meinte er damit die Leute, die sich dort unten um den Jungen geschaart hatten.
Er schnaubte noch einmal abfällig, dann ließ er sich neben mich auf die Fensterbank fallen. Niemand eilte dem Jungen zu Hilfe und, wie ich gerade feststellte, ich auch nicht. War ich ebenfalls nur noch eine seelenlose Hülle, nur ein verkrüppeltes Überbleibsel der Menschlichkeit? Würde ich auch bald in dieser Welt, in der man mit Macht anstelle von Geld bezahlte, untergehen? Zu einen Roboter werden? Als ich Nicholas von meinen Sorgen erzählte, meinte er nur: „Ich weiß es nicht. Aber du wirst den richtigen Weg wählen, so viel ist klar.“. „Warum hast du dir eigentlich die Mühe gemacht, mich zu retten?“, fragte ich ihn. „Weil du etwas Besonderes bist. Ein Individuum. Du kannst noch fühlen und das macht dich zu etwas ganz Besonderem. Früher war die Welt noch anders, denn es gab noch keine Genveränderung. Jeder war ein Individuum und auch die Charaktere waren unterschiedlich. Doch irgendwann begannen einzelne von ihnen, sich ein anderes Aussehen zu wünschen. So begann die Ära der Genveränderung. Doch so wie die Menschen im Aussehen gleich wurden, so verstümmelte sich auch ihr Charakter. Und das was du da unten siehst, sind die letzten Stadien der Genveränderung. Kein Beruf, keine Familie, kein Lebenswille. Nur noch kalter Hass.“,  erklärte er mit einem leichten Zittern in der Stimme. „Ich wünschte…“, begann ich und fuhr mir mit der Hand nachdenklich über meine entstellte Gesichtshälfte, doch Nicholas unterbrach mich: „Du wünschst dir gar nichts. Weil du so perfekt bist, wie du bist! Bitte, vergesse das nie.“. Ein paar vereinzelte Tränen liefen mir übers Gesicht und ich begann, in sein Hemd zu schluchzen. „Was ist?“, fragte ich ihn, denn er war mitten in der Bewegung, mich zu trösten, erstarrt. „Er ist tot.“, flüsterte er und ich sah ihn verstört an. Doch er hatte Recht: die Menschen um den Jungen hatten sich zerstreut und gaben das Bild auf einen schmalen Körper in einer riesigen Blutlache frei. Die Schatten der Vergangenheit ziehen sich eben bis zu uns.

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