Im Dunkeln

Beitrag von Anna-Lisa Mitzel, 18 Jahre

„Hörst du mich?“ das kratzende Geräusch meiner Stimme ließ mich schlucken. Es war mein erster Einsatz. Nach vier Jahren ständiger Herausforderungen, der Tonnen schweren Belastung meiner Nerven und harten Schlägen auf mein Selbstbewusstsein war das wohl die größte zu bewältigende Aufgabe. Schon beim Start hatte ich ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Als wäre der Druck, der mich gegen meinen Sitz presste nicht schon genug, schloss sich nun mehr auch um mein Herz eine Hand, die mit jeder Sekunde fester zugriff. Trotz der vielen Übungsphasen kam es mir vor, als würde ich zum ersten Mal in Schallgeschwindigkeit dem Himmel entgegen schießen. Ich schloss die Augen, versuchte ruhig zu atmen. Ein-aus, ein-aus. Der Display vor meinem Gesicht zeigte nur noch eine Entfernung von 15 Kilometern an. Das weiß-blaue Licht brannte in den Augen. 7 Kilometer. Ich öffnete die Abdeckung der Kontrollhebel und Knöpfe, dessen Bedeutungen ich in einer Sommernacht, im Jahr 2701 mit Unterstützung einer Tafel Schokolade, verinnerlicht hatte. Meine Hände zitterten als ich die manuelle Steuerung aktivierte. 900 Meter. Mit voller Wucht riss ich den Hebel in meine Richtung. Mein Kopf fiel ruckartig nach vorne, mein Herz befreite sich aus dem festen Griff der unsichtbaren Hand und machte einen Satz. „F***!“ . Ich spürte wie alles um mich herum vibrierte. Aus dem Instinkt heraus schloss ich die Hand noch fester um den Hebelgriff, presste meine Augenlider zusammen und saß wie erstarrt in meiner Mini-Rakete, etwa 9 Tausend Kilometer von der Erdoberfläche entfernt, quasi in der Exosphäre schwebend und das einzige Ziel, welches meine Gedanken fest umklammerten, war nicht zu sterben.

Als ich spürte wie das Vibrieren nachließ und die 12 Warnungsleuchten aufhörten wie wild zu blinken, löste ich vorsichtig meine Finger vom Knauf. Ruhig startete ich die unteren und seitlichen Düsenantriebe. „Hörst du mich?“ ich starrte verzweifelt auf die Sprechanlage neben dem Display. Keine Antwort. „Luke“ meine Stimme zitterte. „Bin hier.“ Seine Stimme klang mindestens genauso zittrig wie meine eigene, wenn nicht noch mehr. „Ich dachte schon es hätte nicht funktioniert.“, erleichtert führte ich die einstudierten Handgriffe am Kontrollpult durch. Der Lautsprecher knisterte. „Hast du schon rausgeschaut?“, ich verdrehte die Augen. „Wir wissen doch wie es aussieht.“. Vorsichtig steuerte ich mich in Richtung der Kopplungsstelle. „Wir haben nur die digitale Version gesehen. Denkst du nicht, es sieht in echt noch besser aus?“, ich lächelte. „Das hier ist exakt dasselbe oder vertraust du den live-Übertragungen von den Satelliten nicht? Aber gut, du warst schon immer ein Träumer.“ Die Tatsache, dass ich sein Augenrollen bildlich vor mir sehen konnte, bewies, dass auch die Erdkugel nicht fähig war, die Verbindung zwischen uns zu trennen. Langsam schwebte ich vorwärts. „Bin fast da“. Sanft schob ich den blauen Punkt über die schwarze Fläche unter meiner Hand. „Hast du den Zugangscode schon eingegeben?“, ich hörte ein Fluchen. „Vergessen.“, seine Stimme klang resigniert. „Ist das dein Ernst? Verdammt Luke beeil dich, ich bin in 50 Sekunden da und wenn du es nicht schaffst den verdammten Zugangscode zur gleichen Zeit zu aktivieren, fliege ich persönlich um den halben Erdball um dir eine zu klatschen!“. Ich hielt weiter auf den Zielort zu. „Eingegeben. Zufrieden?“, ich verkniff mir die patzigen Worte, stattdessen seufzte ich erleichtert. „Kopplung in drei-zwei-eins…“.

Die dumpfe Stimme meiner automatischen Flugunterstützung ergriff das Wort. Ich kontrollierte die Luftschleusen der Aktivierungsstation, die vor mir in der Luft hing wie ein schwarzes klotzförmiges U-Boot im Wasser. „Connected.“ Ich stieß die angehaltene Luft aus. Geschafft. „Bin gekoppelt. Bitte sag mir das alles glatt gelaufen ist“, ich wartete. „Alles easy. Aktivierungscode bereit“. Ich schloss meinen Raumanzug. Der Aktivierungscode leuchtete mir von meinem Arm aus entgegen. „Aktivierungscode bereit.“ Die Stille nach diesen Worten führte mir ihre Bedeutung erst wirklich vor Augen.                           „Ich hab Angst.“ Meine Hand schwebte über dem Schalter für die Luftschleuse. „Bist du gesichert?“- „Verbindungsseil angebracht.“- „Luftschleuse öffnen.“-„Luftschleuse ist geöffnet.“-„Luke?“-„ja?“-„in 10 Minuten sind wir wieder auf dem Rückweg.“ -„Versprochen.“ - „Ich liebe dich.“- „Ich liebe dich.“. Meine Hand drückte den roten Knopf bis zum Anschlag. Als sich vor mir die Wand aus Stahl hob, spürte ich die unsichtbare Hand erneut mein Herz umgreifen und das darauffolgende drückende Gefühl in meiner Brust ließ meinen Atem stocken. Ich taumelte vorwärts. Kurz darauf umschloss mich das schwarz-blaue Nichts der Exosphäre.

Es ist schon verrückt wie sich ein Leben im Laufe der Zeit ändern kann. In diesem Moment traf mich das wie ein Schlag ins Gesicht, denn ich tat etwas, dass die Menschen in meiner Welt nur sehr selten taten. Ich war tatsächlich, bewusst, komplett und real da. Tat etwas Verrücktes. Ich verweilte nicht in der dumpfen Landschaft, die Menschen auf der ganzen Welt für ihr zu Hause, ihr Leben hielten, nein. Ich habe mich aus der Menge gerissen und gelernt, mich auf das Echte Geschehen zu konzentrieren. Damals wurde ich von meinen Eltern in die Welt gesetzt, mit der Ahnung eines frisch geborenen Welpen, der zunächst die Sicherheit der Zitzen seiner Mutter genießen darf, nur um ihnen im nächsten Moment entrissen und in eine komplett neue Umgebung gesetzt zu werden. Ich hatte in meinen ersten Lebensmonaten  die volle Aufmerksamkeit meiner Mutter. Ich war sicher. Damals nahm ich vor allem die Momente war, in denen sie mit mir redete. Ich sah nicht die Kamera vor ihrem Gesicht, durch die sie mich anlächelte, mit mir sprach und mit der sie mich verfolgte, egal wohin ich mit meinen kurzen Beinchen watschelte.

Als ich älter wurde, hatte ich die Bedeutung dieses Gegenstandes längst verstanden. Ich sprach oft mit der Linse vor meinen Augen, ich zeigte ihr Stolz meine ersten Schritte, die ersten Kratzer an den Knien vom Fahrrad fahren und die Lücke zwischen meinen Zähnen, als die ersten Milchzähne fielen. Nachdem ich anfing, mich selbst zu filmen und somit die Aufgabe meiner Mutter übernahm, hatte ich den Punkt, an dem man die Welt entdecken sollte, längst überschritten. Meine Wahrnehmung für das Schöne auf der Welt wurde überschattet von den Meinungen tausender Menschen, die mein Leben kommentierten, als wäre es ihr Recht, mit zu entscheiden ob ich nun rosa Schuhe oder Grüne trage. Später lernte ich das Gerät zu bedienen. Schickte Videos an meine Eltern, verglich sie mit den anderen Lifestreams auf den sozialen Netzwerken, pflegte meinen Account. Die Zeit strich dahin und im Alter von 13 Jahren hatte sich die Seifenblase um mich herum zu einer Mauer entwickelt, die mich festhielt und vollständig von der realen Welt abgrenzte. Wir waren alle verbunden, und doch fühlte ich mich fast jeden Tag vollkommen allein. Ich brachte mir so gut wie alles mit Hilfe eines online Lernprogramms bei. Schrieb mit digitalen Freunden und skypte mit meiner Mutter, die oft nur zu mir kam, um mir zu zeigen wie ich vielfältiger im Schreiben meiner Kommentare werden konnte. Das war mein Leben. Das Leben, das ich mit der ganzen Welt teilte. Sie glich nun mehr einer Schneekugel, die einfach nicht mehr geschüttelt wurde. Die weißen Flocken hafteten am Boden und die Flüssigkeit verfärbte sich in ein undurchdringbares braun. Die Erde drehte sich zwar weiter, doch die Menschen saßen, lagen, standen da, versunken in eine andere Welt die nicht nur sie selbst festhielt, sondern auch die Wirtschaft sowie alles andere einfror.

„Hörst du mich?“, mein Herz klopfte laut während ich in der Stille Richtung Aktivierungsstation trieb. „HEY!“, ich erschrak vor meiner eigenen schrillen Stimme. „Laut und deutlich.“. Der zerknirschte Klang drang in meine Ohren wie Balsam. „Dir ist schon klar, dass deine Stimme meinen kompletten Helm füllt wenn du redest?“, Luke klang verärgert. „Ich bin einfach nervös…und werde dich ganz bestimmt nicht wieder anschreien.“, erwiderte ich und steuerte mich vorsichtig zu der bedrohlichen Schwarzen Masse vor mir. Ich konnte nun die groben Konturen der Station erkennen. „Wir müssen uns beeilen. Wir haben noch etwas über 3 Minuten, wenn wir uns an den Zeitplan halten wollen.“ Ich schluckte. Luke hatte Recht, uns blieb nicht mehr viel Zeit. Einmal draußen wären wir vollkommen auf uns gestellt. Niemand überlebt 2 Wochen im All ohne Vorräte und mit Sauerstoff für höchstens eine davon. Zielstrebig hielt ich auf die Frontseite zu. „Ich sehe die Klappen, wo sie heraus kommen wird.“ Luke klang ehrfürchtig. „Konzentrier dich auf unsere Aufgabe! Hast du den Display gefunden?“ ich beleuchtete mit der Handfläche meines Anzuges die glatte schwarze Fläche. „Sie ist ganz oben. Ich gebe den Code ein.“ Seine Stimme zitterte nervös. Vorsichtig tippte ich auf den Display. Er leuchtete hell auf und ein Textfeld erschien. Einmal durchgeatmet, hielt auch ich den Code von meinem Armdisplay an die helle Fläche und als ich ihn wegnahm, erschien der rote Punkt der mir anwies, Es zu aktivieren.

Mein Kopf war gefüllt mit tausend Dingen. Ich dachte an die ersten schwarzen Wochen, dachte an meine Familie, meine Freunde und an mich. Der Entzug war nicht nur hart. Er war unerträglich. Ich hatte ein paar Tage zuvor die News auf ihrer App gecheckt. Als ich las, was die Regierung vor hatte, entstand ein Gefühl welches ich lange nicht mehr gespürt hatte. Es war nie eine Option für mich, mein Leben als ungesund anzusehen, als unnatürlich und Gesellschaft zerstörend. Als ich die Worte der von uns gewählten Vertreter las, wuchs die Wut in mir. Denn wie hätte ich wissen können, dass es lange vor meiner Geburt eine Welt gab, in der ein Handy nur dazu diente zu telefonieren und sich Nachrichten zu schicken? Es gab keine geschichtlichen Hintergründe auf meinem online Lernprogramm. Nie wurde erwähnt, dass es einmal eine Zeit gab, in der man nicht hinter dem Steuer eines selbstfahrenden Autos chatten konnte. Dass die Strahlungen unserer Handys und Tablets einmal krebserregend waren, oder dass der gesellschaftliche Tod dazu führte, dass kein Markt mehr bestand und wir eigentlich nur noch von den Überresten eines Notfall-Nahrungsmittelvorrates lebten. Ich war wütend, weil ich nichts davon mitbekommen hatte, war wütend, dass ich mein Leben, mein Werk für zwei Wochen aufgeben musste. Zwei Wochen ohne Kontakt zu meinen Freunden, zwei Wochen nicht meine Morningroutine dokumentieren, nicht chatten, nicht surfen… nicht leben. Als es dann ein paar Tage später soweit war und ich beobachtete, wie eine Rakete in Schallgeschwindigkeit ihre Luftspur in Richtung Himmel legte, war ich verzweifelt. Ich stand am Fenster und wartete. Meine Mutter schrieb mir, dass sie gleich aus ihrem Zimmer zu uns kommen würde, um es durchzustehen. Zusammen. Doch bevor ich antworten konnte, erlosch mein Bildschirm. Mein Herz zog sich unangenehm zusammen und meine Hände begannen zu zittern. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Doch als ich sie wieder öffnete, war meine Welt und mein Leben bereits in ein tiefes Schwarz getaucht.

Die nächsten Tage waren als würde man mich ohne Sauerstoff in den Tiefen des Ozeans festhalten. Ich konnte nicht schlafen, nicht wach sein. Ich lief durch unser Haus, die Hand an der Wand, um zu sehen, wo ich hinlief. Meine Augen fühlten sich taub an und mein Kopf leer. Ich hörte meine Mutter in ihrem Zimmer schreien, und ihr Schluchzen drang durch die Wände als wären sie genauso wie alles andere nicht mehr vorhanden. Ich hielt durch. Ich durchlitt jede Phase des Entzugs. In der zweiten schwarzen Woche nahm ich das einzige Familienmitglied, das je für mich da war, an die Hand. Ich lief mit ihm langsam durch den Eingangsbereich, bis zur Tür. Als ich sie öffnete und wir dort draußen standen, im Schatten eines riesigen schwarzen Schleiers, der uns umschloss und uns mit uns selbst einsperrte… da veränderte sich etwas in mir. Es fühlte sich gut an. Ich versuchte die Dunkelheit mit meinen Augen zu erkennen, sie zu durchdringen, versuchte mich nicht mehr vor ihr und vor mir selbst zu verschließen.                                       
Die Hand die ich in diesem Moment fest drückte, entzog sich meiner, und wir breiteten die Arme aus, um dieses Gefühl voll und ganz auszukosten. Freiheit.

„Bist du da?“ meine Augen fixierten den roten Punkt. „Ich bin da. Wir werden das jetzt wirklich tun oder?“ - „Wir haben uns 4 Jahre abgemüht um das hier zu erreichen. Also ja, egal was für Zweifel gerade in dir aufkommen. Wir werden das tun. Du und ich. Zusammen.“- „Wie viele werden wohl leiden.“ - „Nicht mehr als die letzten Male. Denk immer daran, dass wir sie befreien, und zwar von einer riesigen Last. Wir befreien sie aus ihrem selbst gebauten Käfig. So wie auch wir befreit wurden.“ Ich wartete. „Okay“. Mein Finger berührte den Display. „Aktiviert.“-„Aktiviert.“. Die unsichtbare Hand um mein Herz drückte nun fester zu. „Also los, zurück zu den Kapseln. Wir haben noch 5 Minuten, dann wird es eng.“ Ich zog mich an meinem Verbindungsseil zurück zu meiner Rakete. Auf der Hälfte des Weges driftete ich ab, ich fasste verzweifelt nach dem Seil, verfehlte es und im nächsten Moment schwebte ich direkt über der Aktivierungsstation. Nachdem ich meine Panik wieder unter Kontrolle hatte, richtete ich meinen Blick nach vorne… was ich erblickte ließ alles andere plötzlich unwichtig erscheinen und die Hand, die meinen Herzschlag beeinflusste, löste ihren Griff. „Du hattest Recht“ flüsterte ich. „Es ist wunderschön nicht wahr?“ Die Stimme meines Bruders klang sanft und ruhig. „Genauso hab ich es mir vorgestellt. Es ist größer als alles andere und so schön, dass es sicherlich niemand in Worte fassen kann.“ Mein Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Wenn es einer kann, dann du.“. „Danke Schwesterchen.“. Meine Augen versuchten den Anblick so lange festzuhalten wie möglich. Doch dann erschrak ich. „Luke! Verdammt Luke wir haben noch eine Minute!“. Ich ruderte mit den Armen, um an das Seil zu gelangen. Ich erwischte es gerade so, als ich erneut Lukes Stimme hörte. „Ich bin längst an Board. Wo bist du?“. Mein Atem stockte. „Ich bin noch draußen.“ Meine Hände packten das Seil, wieder und wieder. Mein Puls raste. „Beeil dich! Scheiße beeil dich, es fängt an!“ die Worte brannten sich in meine Gedanken. Ich sah zurück und tatsächlich. Es begann. Die Klappen an den Seiten des Klotzes öffneten sich. Hinaus floss ein Schwarzer Schleier, der begann sich unnatürlich glatt, ähnlich einer Glasur, über den Erdball zu ziehen. Ich drehte den Kopf zu meiner Kapsel. 10 Meter, höchstens. „LOS!“ brüllte Luke. Mein Atem ging schnell. Rechte Hand, linke Hand. Ich öffnete die Luftschleuse. „Bin gleich drin.“. Stille. „Luke?“ Ich startete die Düsenantriebe. „Hörst du mich? Luke?“. Zielstrebig hielt ich auf den immer schmaler werdenden Streifen zu, durch den man die Erde noch sehen konnte. „Luke!“. Endlich hörte ich ihn. „Du schaffst es nicht mehr oder? Sei ehrlich zu mir.“-„Kapsel dich ab! Sofort! Wir haben keine Zeit mehr!“-„wirst du dich auch abkapseln?“-„Luke, ich werde dich unten sehen.“-„Du lügst! Ich kann doch hier sehen wie weit du noch entfernt bist!“-„Ich schaffe es. Kapsel dich ab. Jetzt!“. Ich startete den Vorgang. Der Streifen wurde immer schmaler. Ich raste auf die defekte Schneekugel zu. Mein Schrei ließ meinen ganzen Körper vibrieren, und kurz nachdem ich die Atmosphäre durchbrach, umfasste mich eine tiefschwarze Dunkelheit, die mich und meine brennende Kapsel umwob wie eine schützendes Netz.

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