Das Praktikum

Beitrag von Tabea, 22 Jahre

„Gefällt es dir denn?“, fragte das Mädchen. Möwe schätzte sie auf etwa siebzehn, vielleicht jünger, es war aufgrund der zierlichen Statur schwierig zu sagen. Ihre Augen schienen direkt durch Möwe hindurchzusehen – ein Nebeneffekt der hochreflektierenden Schicht, mit der die Regenbogenhaut ihrer Augen überzogen war. Eine Mode unter Teenagern, mit der auch Möwe geliebäugelt hatte, aber sie war besorgt gewesen, dass sie für so etwas eigentlich zu alt war. Im Licht der Oled-Leuchtfolien, die den kleinen Laborraums erhellten, strahlten die Augen des Mädchens außerdem so unheimlich, dass es schwer war, Augenkontakt zu halten.

Möwe drehte das kleine Holzkreuz in der Hand und strich über die roh geschnitzten Kanten.

„Ich bin nicht so der Typ für solche Sachen. Aber es ist schon hübsch.“ Möwe sprach laut und deutlich, es hatte in letzter Zeit Probleme mit den Tonaufzeichnungen gegeben. „Es wirkt aber irgendwie, als hätte es ein Kind geschnitzt. Und dann sind die Details an der Figur wieder total filigran. Das finde ich auch komisch, das passt nicht zusammen.“

Wieder erschienen Lettern auf der Tischplatte, die zwischen den beiden war. Möwe konnte die Worte auch von ihrem Platz aus erkennen, aber das Mädchen las brav und flüssig vor. „Es wirkt also nicht wie von Hand gemacht?“

Sie schüttelte den Kopf. Dann erinnerte sie sich an das Protokoll. „Nicht so richtig.“
„Abschließende Skala, bitte.“, sagte das Mädchen, den Blick auf den Tisch gerichtet.
„Für das Gesamtprodukt?“

„Für die Authentizität, wieder.“ Das war der neu eingeführte, natürlich und spontan wirkende Dialog. Möwe vermisste die kalten, korrekten Formulierungen, die die Praktikant⚹innen zuvor vorgelesen hatten, und noch mehr vermisste sie die automatisch erzeugte Computerstimme, die sie durch die Marktforschungsstunden geleitet hatte, bevor beschlossen wurde, dass die Menschen immer noch nicht wieder genug miteinander interagierten. Aber anscheinend schien den meisten die Gesellschaft gutzutun, die die Praktikant⚹innen durch das Vorlesen der Instruktionen boten.
Möwe fand, dass sie in den Teamaufgaben genug mit Menschen zu tun hatte, auch wenn diese Arbeitsgruppen meistens dazu führten, dass sie sich mit wildfremden Leuten über unbedeutende Einzelheiten von fiktiven Kulturevents oder Erlebnisparkmarketingstrategien stritt. Immerhin waren diese Gruppen auf Konflikterzeugung ausgelegt.

Möwe räusperte sich. „Sechs. Nein, Sieben.“

„Vielen Dank.“
Möwe legte das Kruzifix in die vorgesehene Aushöhlung, die aufgetaucht war, wo bis eben noch der geskriptete Dialog des Mädchens gestandenen hatte.

„Wie heißt du?“, fragte Möwe.

„Parden.“, antwortete das Mädchen und blickte sie mit einem Ausdruck geradezu beunruhigender Gleichgültigkeit an.

„Soll ich dir noch erklären, was wir hier machen? Es ist ganz spannend.“ Möwe fühlte sich dumm. Sie hatte nie so recht gewusst, wie sie mit Jüngeren umgehen sollte, darum war sie nicht, wie die Mehrheit ihrer Abschlussklasse, in die Erziehung gegangen. Seit dem neuen nationalen Softwareupdate, dass auch Marketing und HR automatisiert hatte, hatte sich das Betreuungsverhältnis weiter verbessert, mittlerweile kamen auf eine⚹n Erzieher⚹in vier Kinder oder fünf Auszubildende.

„Ich war schon mal hier. Da hab ich auch bei diesen Sozialsachen zugeschaut, die Gruppe musste irgendwas bauen, mit unterschiedlicher Musikbeschallung. Glaube nicht, dass das einen Unterschied gemacht hat.“, sagte Parden und strich sich eine platinblonde Strähne aus dem Gesicht. Es klang, als hätte sie ihr letzter Besuch noch mehr gelangweilt als der heutige Tag. Möwe war froh, dass sie nicht gestern hier gewesen war. Da hatte sie zwei Stunden lang Verpackungen geöffnet.
„Willst du vielleicht trotzdem irgendwas wissen? Immerhin bist du eh schon mal hier.“

Parden runzelte nachdenklich die Stirn. „Naja, warum machst ausgerechnet du das? Hast du dir das ausgesucht?“

„Einfach gesagt mache ich das, weil ich sehr durchschnittlich bin für meine Demografie. So von dem her, was ich fühle. Wenn ich also etwas mag oder nicht, dann werden das andere wahrscheinlich auch. Und wenn mich irgendwo gut fühle, dann fühlen sich andere Leute in der gleichen Situation auch so.“

Parden nickte. „Und woher weiß ich, ob ich auch so bin wie du? Ob ich für so etwas auch in Frage käme.“

„Da wird einfach ein Assessment Center gemacht. Würdest du das denn gerne machen? Ihr müsst bald eure Präferenzen angeben, oder? Ich kann dir eine Empfehlung schreiben, wenn du willst. Man kriegt immer als Erste die neuesten Sachen zum Ausprobieren, das ist ziemlich cool.“
„Ich glaube, das ist schon okay“, sagte Parden. Ihr Armband blinkte auf, das Zeichen, dass es Zeit war, zu gehen. Bis vor kurzem hatte die Computerstimme noch immer laut gesagt, wohin man denn musste, aber jetzt sollte man es wieder selbst wissen, für das Gefühl von Selbstsändigkeit. Wer sich seinen Plan nicht merken konnte, der konnte zur Not ja immer nachfragen.
„Schwimmunterricht“, sagte Parden mit Blick auf das Armband, „Ich will vielleicht in die Richtung gehen, auch wenn mittlerweile keiner mehr Sport guckt. Aber mir wurde gesagt, das wird eh wieder gefördert werden.“

Möwe begleitete Parden bis zum Aufzug.

„Weißt du“, sagte Möwe zögerlich, „es wäre wirklich nicht schlecht, wenn du dir von mir eine Empfehlung geben lassen würdest. Man weiß nie, und schaden kann es sicherlich nicht. Hauptsache keine Freiphase, der nächste Karrierewechsel ist mittlerweile erst mit 38.“

„Das geht nicht“, sagte Parden und blickte zu Boden. Kurz schien sie mit sich zu ringen. „Dein Job war nicht im Katalog. Der ganze Karrierezweig.“

Möwe runzelte die Stirn. „Wie kann das denn sein?“

Noch während sie die Frage stellte, verstand Möwe. „Das Update hat ihn gekillt, oder?“ Der Algorithmus schien endlich gut genug zu funktionieren, um die Forschungsergebnisse im vornherein zu berechnen. Die Experimente waren schlussendlich auch für sie nur noch für sie nichts weiter als Beschäftigungstherapie bis zum nächsten Karrierewechsel. Falls sie da überhaupt noch einen der echten Jobs kriegen würde.

Das Mädchen stieg in den Aufzug und drückte auf den Knopf zum Erdgeschoss – auch eine Neuerung, die gemeinsam mit dem Kalenderupdate kam, man musste selbst wissen, wo man hin wollte. Im Kellergeschoss des Komplexes gab es ebenfalls ein kleines Sportschwimmbecken, aber Parden würde vermutlich zu irgendeinem Gebäude ein paar Blocks weiter geschickt werden. Es tat nicht gut, den ganzen Tag alle Aufgaben im selben Gebäude zu erledigen, die Laufwege waren nötig für das Wohlbefinden. Man musste ja beschäftigt bleiben.

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Autorin / Autor: Tabea, 22 Jahre