Von der Rolle

Kurzgeschichte von Milena Zobrist, 20 Jahre

«Nun, Herr Jenzer, dann sehen wir uns nächste Woche», sagte ich so höflich wie möglich.
«Ja, Frau Rey. Ich hoffe, Sie können mir helfen. Ich glaube, das ist ernst.»
«Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin mir sicher, sie sind bald wieder der Alte.» Ich lächelte und rollte um den Tisch herum, um Herr Jenzer die Hand zu schütteln. «Auf Wiedersehen.»
Herr Jenzer schüttelte mir die Hand länger als nötig und wendete dann endlich seinen Rollstuhl, um zu gehen. Geduldig wartete ich, bis er mit dem vermutlich niedrigsten Tempo, zu dem sein Stuhl in der Lage war, aus meinem Behandlungszimmer trudelte.
Seufzend schloss ich die Augen. Herr Jenzer war nur einer einer ganzen Reihe von mühsamen Patienten, die ich betreute. Ein alter Witwer, der seine Therapiestunden bei mir dazu nutzte, um zumindest einmal in der Woche jemanden zum Reden zu haben. Beziehungsweise zum Volljammern. Unter anderen Umständen hätte ich ihn längst an einen Psychologen überwiesen, der dafür ausgebildet war, doch Psychologen gab es sowieso zu wenige, heutzutage, in der Zeit der Einsamkeit, wie die Presse es beschrieb. Außerdem brauchte ich das Geld. Im Gegensatz zu Psychologen war mein Beruf in der heutigen Zeit absolut überflüssig geworden. Ich war Physiotherapeutin. In einer Welt, in der niemand mehr gehen konnte. In einer Welt, in der niemand mehr gehen musste. Wieso auch? Wir alle saßen in unseren Rollstühlen, die gleichzeitig Fortbewegungsmittel, Computer und persönlicher Assistent waren. Und diesen Job nahmen diese Stühle sehr ernst. Noch während ich darüber nachdachte, begann mein Stuhl zu piepsen und mich darauf aufmerksam zu machen, dass es Mittag war und ich nun Hunger hatte. Im gleichen Zuge berechnete er, welche Nährstoffe ich zu mir nehmen sollte und stellte mir ein Menü zusammen. Ernährungsberater hatten wohl ähnlich um ihre Existenz zu kämpfen wie ich. Wobei, das war falsch, meine Existenz war nicht bedroht, ich bekam meinen Lohn, ob ich arbeitete oder nicht. Aber ich wollte arbeiten. Was sonst sollte ich den lieben langen Tag machen?
Mein Stuhl fragte mich, ob er Essen kommen lassen sollte. Ich drückte Nein und rollte aus dem Behandlungszimmer.
Mein Behandlungszimmer lag im dritten Stock. Doch seit zwei Jahren war dieser direkt an das Schienensystem angeschlossen. Das Schienensystem war ein kompliziertes Netz an Schienen, das praktisch alles in der Stadt miteinander verband. Man musste nur den Bügel seines Rollstuhls in die Schiene einrasten, dem Stuhl sagen, wo man hinwill und – whuuusch – schon flog man unter den Schienen entlang über die Stadt an den gewünschten Ort.
Ich ging dahin, wo ich immer hinging, um zu Mittag zu essen. Ein großes Lokal, das immer mit Menschen vollgestopft war. Ich mochte Menschenmengen. Nirgends war man so unsichtbar und konnte doch alles beobachten.
«Das, was der Stuhl sagt?», fragte mich eine Verkäuferin. Eine absolut unnötige Verkäuferin, denn ihr Job hätte eine Maschine genauso gut übernehmen können. Sie war genauso unnötig wie eine Physiotherapeutin in einer Welt, in der niemand gehen konnte. Oder es zumindest wollte.
Trübselig aß ich meine Spinatplätzchen mit einem Stück Hühnerfleisch und einem Schnitz Honigmelone und trank solange Wasser, bis mein Stuhl zufrieden war. Er war immer der Meinung, ich trank zu wenig.

Dann fuhr ich zurück in mein Behandlungsraum, wo mich vermutlich ein weiterer älterer Herr erwartete, der sich ein Leiden einbildete, damit er etwas zu tun hatte. Wenn er wirklich ein Leiden hätte, dann hätte das sein Stuhl bestimmt vor ihm bemerkt.
«Welcher Patient kommt um 14:00?», fragte ich den Stuhl.
Nora Adams. Ein Foto wurde geladen und ich stutzte. Nora war kein älterer Mann -  sie war eine junge Frau. Neunzehn Jahre alt.
Was sollte eine neunzehnjährige von mir wollen, wunderte ich mich, da klopfte es schon an der Tür.
«Rollen Sie rein», rief ich und platzierte mich hinter dem Schreibtisch. Die Tür ging auf, und die junge Frau kam herein.
Sie hatte lockiges, braunes Haar, das sie zu zwei Schwänzchen zusammengebunden hatte, und ihr waches Gesicht war von Sommersprossen gesprenkelt.
«Guten Tag Frau Rey, ich brauche ihre Hilfe. Und zwar wirklich dringend.» Sie musterte mich prüfend. «Sie stehen doch unter der Schweigepflicht?»
«Eigentlich nicht, aber wenn ihnen mein Versprechen zu schweigen reicht, dann schon.»
«Ich halte das nicht mehr aus.»
«Was ist denn, haben sie Schmerzen?» Ich war verwirrt. Ich hatte noch nie einen Patienten mit einem echten Leiden.
«Nein, nicht wirklich.»
«Hören Sie, wenn es Ihnen wirklich schlecht geht, dann bin ich vielleicht nicht die richtige Person.»
«Bei Psychologen war ich schon, sie können mir nicht helfen. Sie sind meine letzte Hoffnung. Bitte, versuchen sie wenigstens mir zu helfen.»
«Na gut.» Ich faltete meine Hände. «Was ist los?»
«Sie sind doch Physiotherapeutin.»
«Das habe ich zumindest gelernt.»
«Gut, das ist alles, was ich brauche. Ich will aus diesem Stuhl raus. Sie müssen mich lehren zu gehen.»
Ich starrte sie an. Verrückt, schlussfolgerte mein Kopf. Sie ist verrückt.
Doch bevor ich etwas sagen konnte, unterbrach sie mich: «Ich weiß, was Sie denken. Sie denken, ich bin verrückt. Dass das nicht geht. Wieso sollte jemand aus diesem Stuhl raus wollen, der uns das Leben so erleichtert. Ja, er erleichtert uns das Leben. Sosehr, dass nichts mehr eine Herausforderung ist. Niemals müssen wir uns anstrengen. Wir müssen kaum mehr selber denken! Dieser Stuhl hält uns gefangen. Mich zumindest. Für mich ist er ein Gefängnis.»
Ich starrte sie nur an.
«Ich weiß, worum ich Sie bitte ist wahnsinnig und seltsam, vermutlich sogar illegal. Aber stellen Sie sich vor, wenn ich gehen könnte, dann könnte ich hin, wohin ich will. Ich brauche keine Schienen mehr. Ich kann eine Woche lang fettige Hamburger in mich hineinstopfen, und nichts piepst solange, bis meine Werte wieder optimal sind. Bitte, lehren Sie mich gehen!»
Ich sagte nichts. Meine Gedanken wirbelten durcheinander.
«Bitte», flüsterte Nora.
Mit aller Wut und Frustration, die ich in meinen 40 Jahren auf der Erde gesammelt hatte schlug ich mit beiden Fäusten auf den Display meines Rollstuhls.
«Ja.» Mein Rollstuhl piepste protestierend. «Verdammt, ja!», schrie ich. «Gehen wir!»

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