Glück implantieren

Kurzgeschichte von Melina Welk, 21 Jahre

Piep. Ich zog meine Hand zurück und blickte auf meinen Unterarm. Direkt unterhalb meines Handgelenkes leuchtete erwartungsgemäß das rote Lämpchen des eingepflanzten Chips unter meiner Haut auf. Achtung. Daten entnommen.

„Keine Sorge, dir wird es bald besser gehen“, sagte die Empfangsdame. Das sagten sie alle. Seit Tagen. Ich setze mich wieder auf den Platz neben meiner Mutter, die mir ein müdes Lächeln schenkte und dann weiter scheinbar an die Wand starrte. Doch an den schnellen Bewegungen ihrer Augen merkte ich, dass sie irgendetwas auf ihrer digitalen Brille las. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Mädchen gegenüber. Schwarze Haare und Kleidung, blasse Haut, Tätowierungen, Nasenring und andere Piercings. Sie hatte ihre Brille nicht auf. Stattdessen funkelte sie mich misstrauisch an. „Freiwillig oder Zwang?“, fragte sie mich. „Fre-Fre-Freiwillig.“ Ich war heiser; zu lange hatte ich meine Stimme nicht mehr gebraucht. Ihre Mine verdüsterte sich. Sie spuckte auf den Boden und wandte sich ab. Sie war also auf gerichtliche Anordnung hier.

Ich verstand, dass sie sauer war. Wer bekommt schon gerne den Kopf aufgeschnitten und einen Chip implantiert, der ungewollte Emotionen blockierte? Ich konnte wenigstens selber entscheiden, dass meine Emotionen ungewollt und belastend für mich waren. Die letzten zwei Jahre durchlebte ich eine psychische Folter. Von Angstattacken über Selbstmordgedanken bis hin zu Zwangsstörungen habe ich alles mehrfach mitgemacht. Die Psychopharmaka schlugen bei mir kaum an und Methoden, wie ambulante und stationäre Therapien wurden schon vor einigen Jahren gänzlich abgeschafft. Psychologen und Therapeuten gab es nicht mehr. Viel zu kostenintensiv. Warum sollte jemand dir zuhören und deine Gedanken und Handlungen analysieren, wenn ein kleiner Chip in deinem Kopf jedes Gefühl und damit jeden Handlungsimpuls in die richtige Bahn lenkte? Vielleicht, weil der Patient es bevorzugt hätte. Vielleicht, weil ich es bevorzugt hätte. Vielleicht, weil es mir tatsächlich geholfen hätte, einmal Verständnis zu bekommen. Aber der Wunsch des Einzelnen spielte schon lange keine Rolle mehr und Verständnis war zu einem Fremdwort in der Gesellschaft geworden und fürs Zuhören hatte eh niemand mehr Zeit.

Dementsprechend stieß auch aggressives Verhalten, wie Wut-und Gewaltausbrüche und depressive Stimmung auf Unverständnis. Man hatte zu funktionieren, Andersartigkeit wurde bekämpft. In einer Dokumentation hatte ich gesehen, dass vor gut 50 Jahren der Grund für solches Verhalten oft noch in der Vergangenheit der Person, der Umwelt und der Gesellschaft im Allgemeinen gesucht wurde. Heutzutage lebt man nach der Prämisse, der besagte Mensch ist kaputt. Kaputt wie ein Roboter, reparaturfähig wie ein Roboter. Wahrscheinlich war das Mädchen auf dem Platz gegenüber öfters unangenehm aufgefallen und ein Gericht hatte entschieden, dass man den Makel der Gesellschaft korrigieren müsse.

Ich warf einen raschen Blick auf sie. Würde sie überhaupt noch sie selbst sein? Würde ich überhaupt noch ich selbst sein? Man hatte mir versichert, dass ich weiterhin im normalen Umfang alle Gefühle empfinden würde. Wer aber definierte den normalen Umfang? Macht es nicht gerade einem Menschen aus, dass der eine auf eine Situation stärker, schwächer oder mit anderen Gefühlen reagierte als der sein gegenüber? Ich hatte mir diese Fragen oft gestellt, ich hatte sie anderen gestellt. Doch niemand hörte wie immer zu. Schlussendlich schob ich die Fragen beiseite. Ich entschied mich für den Weg des geringsten Übels. Ein Chip im Kopf, der meine Gefühle und damit mich veränderte, war allemal besser als ein Leben mit Gefühlschaos, Ängsten und Verzweiflung.

Auch jetzt sagte ich mir diesen Satz wie in einem Mantra vor. Ich blickte auf die Uhr. Eine halbe Stunde noch. Mein Blick wanderte durch den Raum. Ich musste mich ablenken, sonst würde die Panik mich erneut ergreifen. Mein Blick viel auf die Datenchips auf dem kleinen Tisch, der mich und meine Mutter voneinander trennte. Ich nahm einen und hielt ihn an meinen Unterarm. Achtung. Daten aufgenommen. Ich zog meine Brille aus meiner Tasche, setze sie auf und rief mit Augenbewegungen die Zeitschrift auf, die ich eben gespeichert hatte. Ein Countdown oben links zeigte mir an, dass mir die Artikel 30 Minuten zur Verfügung standen. Meine Augen begannen, wie die meiner Mutter, hin und her zu zucken, während ich die einzelnen Artikel mehr oder weniger interessiert las.

„Würden sie mich bitte begleiten? Frau Doktor wird ihnen ein Narkosemittel verabreichen. Der OP-Saal und der Chirurg sind bereit“, holte die Stimme der Empfangsdame mich in die Wirklichkeit zurück. Meine Mutter neben mir sprang auf und umarmte mich. „Bald habe ich mein gutgelauntes Mädchen wieder“, sagte sie und strahlte mich zum ersten Mal seit langen wieder an. Ich schluckte und die alten Fragen stiegen wieder in mir auf. Die Empfangsdame schob mich aber mit sanfter Gewalt zu einer großen Doppelflügeltür. Ich warf einen schnellen Blick auf die Stuhlreihe, die sich mir gegenüber befunden hatte. Das Mädchen saß nicht mehr auf ihren Platz. Wahrscheinlich war sie bereits ein neuer, fröhlicher, funktionierender und gewöhnlicher Mensch. Auch ich ging durch die Tür mein neues Leben.

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