Visionär

Beitrag von Christine Weck, 20 Jahre

Liebe Elena,

kannst Du Dir vorstellen, dass uns jetzt mehrere tausend Kilometer voneinander trennen?! Als wir uns vor sieben Jahren kennenlernten, hätte ich niemals gedacht, dass sich die Ereignisse irgendwann so überschlagen könnten.
Weißt Du, als ich im Shuttle saß und wir abhoben und ich noch eine Weile den Erdboden – unsere Heimat – unter mir sehen konnte, fragte ich mich schon, ob ich das Richtige tue. Aber nachdem ich nun schon drei Wochen hier bin und mich langsam einlebe, bin ich fest davon überzeugt, dass es eine gute Entscheidung war.

Ach Elena, ich wünschte, Du könntest das hier alles selbst mit eigenen Augen sehen. Es ist so zauberhaft hier, alles scheint von einem eigenartigen Leuchten umgeben. Die Gebäude sind riesig, die Straßen verlaufen alle unterirdisch und scheinbar unendlich lang … Ich würde Dir am liebsten Bilder schicken, aber das läuft ja hier alles irgendwie anders als unten auf der Erde. Wirklich jeder einzelne Teil meines Lebens funktioniert irgendwie anders als bisher … Bis ich mit all dieser Technik hier klarkomme, wird es sicherlich eine Weile dauern.

Jedenfalls funktioniert eigentlich alles, auch das Fotografieren, über diese berühmten Kontaktlinsen, von denen man auch auf der Erde immer wieder hört. Weißt Du noch, wie oft wir gelesen haben, dass diese Linsen wahre Wunderwerke sind? Und sie sind es, Elena! Das erstes Paar bekommt man kostenlos, sonst hätte ich mir das ja gar nicht leisten können, wie Du weißt. Aber man braucht die Kontaktlinsen auch für das Arbeiten hier, also kann man ohne sie gar kein Geld verdienen, und ohne Geld keine weiteren Kontaktlinsen, und dann ist man ganz schnell raus. Und ich möchte unter keinen Umständen als Gefallene auf die Erde zurückkehren.
 
Ich habe ja also diesen fantastischen Job in der Evolutionsforschung erhalten, und hier wird daran geforscht, neuartige Lebewesen zu erschaffen. Mit Lebewesen meine ich Pflanzen, Tiere und sogar Menschen! Diese sollen möglichst perfekt sein, damit diese Zivilisation möglichst lange fortbesteht und etwas wie der große Crash vor zwanzig Jahren nicht wiederholt wird. Es ist wirklich erstaunlich, wie fortgeschritten diese Wesen im Vergleich zu uns oder im Vergleich zu den Pflanzen und Tieren, die ich noch von der Erde kenne, sind. Ich meine, viel davon ist ja schließlich nicht mehr übrig, aber hier oben scheinen ziemlich viele Daten über die Struktur dieser Wesen noch zu existieren, und auf Basis dieser wird nun weiterentwickelt. Überhaupt sind Daten hier oben schrecklich wichtig.

Entschuldige, wenn ich abschweife. Es gibt einfach so viel, was ich Dir gerne erzählen würde! Vielleicht kannst Du mich hier oben ja eines Tages besuchen, dann würdest Du das alles selbst erleben. Das wäre unglaublich, meinst Du nicht auch?

Zurück zu meiner Arbeit. Ich muss zugeben, eigentlich entwickele ich diese Wesen gar nicht selbst – oder zumindest noch nicht. Ich beurteile nur ihre Funktionsweise, Dinge wie Rentabilität, Leistung und so weiter. Dazu sitze ich in einem Büro; ein ziemlich kleiner Raum mit weißen Wänden. In der Mitte steht ein Tisch, an dem ich sitze. Jemand bringt mir immer die neuesten Entwicklungen herein, und ich sehe sie mir dann an. Meine Kontaktlinsen scannen das, was ich sehe, und übermitteln mir diese Informationen auf eine Art Hologramm, das in der Luft schwebt. Kannst Du Dir das vorstellen, Elena?! Ein Hologramm! Und wir dachten immer, das wäre selbst für die NewLabs-Stationen etwas zu futuristisch, dabei sind sie hier längst eine Selbstverständlichkeit!

Jedenfalls ist meine Aufgabe nur, die Lebewesen mithilfe eines Punktesystems zu bewerten. Wenn sie einen Punktestand von mindestens 300 erreichen, gehen sie in die Weiterentwicklung. Alles darunter wird vernichtet. Reine Ressourcenverschwendung, wie ich anfangs dachte, doch jetzt sehe ich das alles nicht mehr so eng. Hier lässt sich alles per 3D-Druck herstellen, wirklich alles – von menschlichen Organen bis hin zu neuen Arbeitsmaterialien für wirklich jede Branche, die es hier oben so gibt. Eigentlich beschränkt sich jede Arbeit hier auf der Station darauf, etwas Neues zu produzieren, zu bewerten oder weiterzuentwickeln. Nur das Beste vom Besten. Und alles kann man durch diese Kontaktlinsen kontrollieren, es gibt überhaupt keine Maschinen, die man per Hand bedienen muss. Man guckt einfach irgendwohin, die Kontaktlinse bietet einem Optionen an, wie man fortfahren kann, man wählt durch Handbewegungen oder Sprachsteuerung eine Option aus – und das war es! Verrückt, nicht wahr? Kaum zu glauben, dass so etwas überhaupt möglich ist. Es wirkt alles so surreal, ich kann bei manchen Dingen kaum glauben, dass sie echt sind.

Ach, auch wenn ich es wirklich toll hier oben finde, ich vermisse dich und alle anderen, die noch dort unten sind. Ihr müsst euch bemühen, dass ihr auch ins Programm aufgenommen werdet, bitte! Es lohnt sich wirklich, ihr könntet diesem schrecklichen Leben auf der Erde in all dem Schutt und Staub endlich entfliehen! Ihr müsst wirklich in drei Jahren beim nächsten Auswahltest wieder antreten. Ein bisschen einsam fühle ich mich nämlich schon, auch wenn die Kollegen alle sehr nett sind. Ich habe nicht so viel mit ihnen zu tun, da jeder allein in seinem Büro sitzt und vor sich hinarbeitet. Alles läuft über digitalen Datenaustausch. Aber manchmal trifft man sich irgendwo, und alle sind wirklich höflich und freundlich zu mir. Eine gewisse Katie hat mich in der ersten Woche hier eingearbeitet, und auch sie ist sehr sympathisch und nett, aber ich weiß nicht, ob ich hier jemals wieder so eine Freundschaft wie mit Dir aufbauen kann, Elena.

Oh, ich muss Schluss machen. Gleich kommt wohl das Transportshuttle vorbei, welches die Briefe zur Erde einsammelt. Ich schreibe Dir wieder, Elena, und dann erzähle ich Dir mehr über das Leben hier tausende Kilometer über dem Erdboden. Gib nicht auf!

Alles Liebe!
Deine Amelia

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Autorin / Autor: Christine Weck, 20 Jahre