Geht' s noch?

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Jessica Gronert,17 Jahre

Ich knie mich auf den sommerlich aufgeheizten Boden vor einem Haufen Papierschnipsel. Einzelne Haarsträhne kleben an meinem verschwitzen Gesicht. Die Luft ist stickig und dünn. Wie durch einen vernebelten Schleier betrachte ich das Papier vor mir. Es stammt aus einer Zeitung, ganz sicher. Vielleicht die Rhein-Zeitung, oder die TAZ? Ich wohne in keiner Großstadt und doch ist es schier unmöglich, den Fußgängerweg vor meinem Haus sauber zu halten. Mit zusammengebissenen Zähnen greife ich nach einem Schnipsel. Ich halte ihn in die Sonne. Ich halte ihn dicht vor meine Augen. Es hilft alles nichts. Ich kann die verwaschenen Buchstaben nicht entziffern. Ich werde nie erfahren, wessen Zeitung ich jetzt wegräumen darf.

Ein Lastwagen rast an mir vorbei. Sein Lärm übertönt die leisen, in der Ferne singenden Vögel. Er dringt in meine Ohren, prallt gegen mein Trommelfell und zerstört alles in meinem Gehörgang, wie ein Tornado in Texas. Gleichzeitig bahnt sich der Dieselgeruch einen Weg in meine Nase. Ich versuche dagegen anzukämpfen, halte meinen Atem an, doch es ist zu spät. Die Dieselpartikel gelangen in meine Atemwege, in sämtliche Gewebe und Organe meines Körpers und finden einen Platz in meiner Lunge. Ich fühle mich benebelt und stütze mich mit der rechten Hand auf den Pflastersteinen ab. Kleine Steinchen drücken sich in meine Handfläche. Mit der anderen Hand beginne ich endlich das Papier einzusammeln. Ein Taschentuch braucht fünf Jahre bis es abgebaut ist, schießt es mir durch den Kopf. Ich sehe auf, durchforste den Gehweg mit meinen Augen und entdecke eine Plastikflasche in der Hecke. Sie braucht 100 bis 1000 Jahre. Eine tiefe Furche bildet sich zwischen meinen Augenbrauen. Es ist doch nicht zu viel verlangt, den Müll in die dafür vorgesehenen Behälter zu werfen! Entrüstet atme ich tief durch und wische mir den Schweiß von der Stirn. Ich verstehe es nicht. Für mich ist diese Inkompetenz unerklärlich.

Das Pulsieren meiner Schläfen überlagert inzwischen alles um mich herum. Die hupenden Autos und ihre Abgase, den Mann der keine zehn Meter von mir entfernt einen Zigarettenstummel auf den Boden wirft und die unzähligen Schnipsel in meiner Hand. Für einen Moment schließe ich meine Augen. Vor meinen Augenliedern wird alles schwarz, dunkel und düster. Genauso, wie die Erde in wenigen Jahren aussehen wird. Es ist ein gottgegebenes Geschenk hier leben zu dürfen. Eine Ehre ein Privileg, das wir beschützen und hüten müssen. Wir müssen uns um unseren Lebensraum kümmern, ihn pflegen und für alle die nach uns kommen bewahren. Stattdessen schmeißen die Menschen ihre Zigarettenstummel auf den Boden. Hunderte schädliche Chemikalien gelangen in die Umwelt. Sie geraten in Gewässer und töten unzählige unschuldige Wassertierchen. All das wegen des menschlichen Egoismus. Jeder schaut auf seine eigene Nase und wir geben uns mit nichts zufrieden. Hauptsache bequem, Hauptsache gemütlich und einfach. Was spricht bitte gegen Anstrengung? Ich kann es mir nicht erklären. Es braucht nicht viel, um die Müllberge in den Meeren verschwinden zu lassen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Soll sich doch die kommende Generation darum kümmern.

Die Schritte einer Dame in High Heels, welche dicht an mir vorbeistolzieren, reißen mich aus meinen Gedanken. Ich öffne meine Augen. Meine Hand auf der ich mich abstütze wird langsam taub. Meine Kehle ist wie ausgetrocknet und mein Herz schlägt schwermütig in meiner Brust. „Es wird sich bessern“, murmle ich kaum hörbar, „Es muss sich bessern. So kann das nicht ewig weiter gehen“. Erschöpft versuche ich aufzustehen, aber eines meiner Beine will sich nicht vom Boden trennen. Nur schwer bekomme ich ihn angehoben. Ich schreie auf. Ein rosa Kaugummi klebt an meiner Jeans, genauso wie auf dem Pflasterstein unter mir. Je weiter ich mein Bein hebe, desto weiter zieht sich dieser sich in die Länge. Brechreiz steigt in mir auf. Feste beiße ich meine Zähne aufeinander und balle meine Hände zu Fäusten. „Aber die Menschen sind nicht böse“, sagt die Stimme meines Lieblingsrappers Alligatoah in meinem Kopf, „Die Menschen sind nur dumm“.

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Autorin / Autor: Jessica Gronert