Morgens halb sieben in Deutschland

Eine Frage des Blickwinkels

*Morgens halb sieben in Deutschland:*
Die 14jährige Julia steht im Badezimmer und vor einer Entscheidung. Welches T-Shirt passt am besten zur Jeans? Das Rosa-Geblümte? Das in Netzoptik? Aber es muss ja auch zu meinem neuen Lidschatten passen, denkt sie und ärgert sich, „ach hätte ich doch bloß das Shirt mit den Rosen drauf gekauft...“ Morgens halb sieben in einem kleinen Nomadendorf in Afrika: Wada und ihre neun Geschwister erwachen mit hungrigen Bäuchen und ausgetrockneten Mündern. Schon seit Tagen hoffen sie auf den Regen und darauf, dass sich ihre Bäuche wieder füllen können. So müssen sie warten auf den nächsten Tag. Wenn es für sie überhaupt ein Morgen geben wird??

*Morgens halb zehn in Deutschland:*
Tina, 13, steht verzweifelt auf der Schultoilette vor'm Spiegel und starrt mit entsetztem Gesicht hinein. Dort, direkt auf der Nasenspitze, hat sich ein megapeinlicher, superfetter, ekelhafter, jungsabschreckender Pickel in Form eines winzigen, roten, kaum ein Millimeter großen Punktes niedergelassen. Tina kramt hektisch in ihrem Schminktäschchen. O nein, sie hat den Abdeckstift vergessen. Ein Weltuntergang! Zur selben Zeit wird im Irak das Haus von Mustafa und seiner sechsköpfigen Familie von einer amerikanischen Bombe getroffen. Sie sind sofort tot. Dabei waren selbst sie gegen Saddam Hussein gewesen und hatten ihn nicht unterstützt.

*Irgendwann während der 6. Stunde in einer deutschen Schule:*
Statt dem Erdkundeunterricht zu folgen, macht sich die 15jährige Laura ganz andere Gedanken. Wo soll sie bloß nachher ihren String-Tanga kaufen. Bei H&M? Ach, da muss man so lange anstehen? Bei Pimkie? Ach was soll es überhaupt für ein Tanga sein? Rot? Blau? Bunt? Auf einer Landstraße in Afrika. Neba kann nicht mehr weiter. Sie ist so erschöpft. Mit ihren Krücken schleppt sie sich jeden Tag 2km in die Schule. Neba hat keine eigenen Beine mehr. Sie verlor sie als Siebenjährige, als sie auf eine Mine trat. Ihre Freundin starb dabei. Nebas Plastikbeine sind viel zu klein geworden, doch für neue reicht es an allen Ecken und Enden nicht....

*Nachmittags in Deutschland:*
Die Welt ist so ungerecht! Das ist so fies! Stella, 16, schmollt. Alle ihre Freunde dürfen immer bis Mitternacht in der Disco bleiben, nur sie muss immer schon um elf zu Hause sein. Doch dann fängt der Spaß erst richtig an und die coolen Typen kommen! Um elf, da gehen doch nur die Babies... es ist ungerecht! In Neu Dehli, Indien: Ja, es ist ungerecht, denkt die 12jährige Ana. Es ist ihre Hochzeit und sie schleicht mit gesenktem Kopf hinter ihrem Ehemann her. Er ist 18 Jahre älter als sie und ein reicher Farmer. Ana muss ihn heiraten, damit die Familie überleben kann. Sie fühlt sich verletzt und hat Angst vor dem großen, dicken Mann mit dem schiefen Lächeln. Ist das das, was ihre Familie wollte?

*Irgendwo in Deutschland, 16:30h:*
Ich bin ein Baby, denkt Lilli und schluchzt, ich bin hässlich und unnormal. Jetzt ist sie schon fünfzehn Jahre alt und hatte immer noch keinen Freund gehabt. Wie abartig! Kein Wunder, dass da keiner mehr mit ihr reden will... mit einer Abtrünnigen will doch keiner etwas zu tun haben... Genau! Mit den kohlrabenschwarzen Kinder aus dem Elendsviertel in der großen Stadt will keiner etwas zu tun haben. In den Augen der anderen ist ihre Hautfarbe ein Grund, sie zu diskriminieren und ihnen nicht die gleichen Chancen wie anderen Kinder mit hellerer Haut zu geben....

*17:30 Uhr in Deutschland:*
Ich mache mir Gedanken über die Wichtig- und Nichtigkeiten in dieser Gesellschaft... Wo hier ein Mädchen wegen abgebrochener Fingernägel weint, heult irgendwo auf dieser Welt ein anderes Kind wegen bedeutend wichtiger Dinge. Mit meinem Text möchte ich den anderen zeigen, über was für unwichtige Sachen wir uns manchmal den Kopf zerbrechen und denken, dass dadurch die Welt untergeht.

Autorin / Autor: Yori88 - Stand: 7. Januar 2004