Macht die Augen auf

Manchmal vergessen wir im Leben, dass sich nicht alles nur um uns dreht...

11:25 Uhr. Vorbei. Ich packe langsam meine Sachen zusammen. Kugelschreiber, Taschenrechner,.. Heft zu. Eine zweistündige Matheklausur liegt hinter mir und ich starre immer noch ungläubig auf das zugeschlagene Heft. Die erste Aufgabe war kein Problem, aber dann: Alles vergessen! Der totale Blackout! Sowas ist mir vorher noch nie passiert, ich konnte mich immer darauf verlassen, dass sich die Aufregung legt und mir dann doch alles einfällt, aber diesmal war es anders. Ich hab noch hilflos einige Formeln hingeschrieben, versucht etwas zu rechnen, aber ich befürchte es war eher erfolglos. Also nehme ich meine Tasche, meine Jacke und gehe deprimiert nach vorne um mein Heft abzugeben. Draußen erwartet mich dann auch schon ein Freund, der auch nicht sehr begeistert von der Klausur war. Wenigstens etwas. Trotzdem ist es deprimierend, enttäuschend. Ich bin eher enttäuscht von mir selbst. Also gehe ich mit meiner schlechten Laune in die Pausenhalle, wo mich dann schon alle erwarten und fragen wie es war.

"Ich hab's verhauen", der Satz hat gereicht um die Hoffnung aus ihren Gesichtern verschwinden zu lassen. Ja, es kümmern sich alle lieb um mich und versuchen mir meinen Ärger zu nehmen und mich aufzubauen, aber irgendwie will es nicht so recht gelingen. Die nächsten zwei Schulstunden dann scheinen gar nicht mehr zu vergehen und in meinem Kopf ist nur die Klausur, so dass ich gar nicht mehr zuhören kann. Hätte ich mehr lernen sollen? Hätte ich mir weniger Stress machen sollen? Hätte ich...? Ach, das hat doch auch keinen Sinn. Vorbei ist vorbei. Trotz dieser Erkenntnis muss ich mich nach Schulschluss eher zu einem Lächeln zwingen und so ganz abgeschlossen habe ich mit dem Thema noch immer nicht. Im Bus sitze ich dann neben einer Freundin und unterhalte mich mit ihr über die Klausur. Sie war auch nicht zufrieden und rechnet fest mit einer fünf. Ich denke aber sie ist besser. Plötzlich hält der Bus an. Ich schaue verwirrt aus dem Fenster und muss mich strecken um etwas sehen zu können.

Vor uns stehen einige Autos und ein Bus in einer Schlange, mehr sieht man nicht. Vielleicht liegt es ja an der Ampel dahinten. Also warte ich ab und höre auch schon die Sirene eines Krankenwagens. Jetzt überholt er uns von hinten und hält vorne neben dem anderen Bus an. Wieso stehen hier so viele Kinder im Weg? Ich sehe gar nichts! Wir fahren wieder ein Stück weiter und vor dem anderen Bus sieht man ein Fahrrad liegen. Verbogen und völlig zerkratzt. Sofort schießen mir tausend Gedanken in den Kopf. Verletzt? Tot? Was ist passiert? Ein Kind? Ich muss an meine kleine Schwester denken, aber die kommt auch mit dem Bus von der Schule nach Hause. Wir fahren wieder ein Stück weiter und man sieht nur wie jemand auf eine Trage gelegt wird, das Gesicht jedoch von dem Körper eines Rettungssanitäters verdeckt. Dann biegen wir ab und fahren einen Umweg, weil die Straße von einem Polizeiauto versperrt ist. Wie konnte das passieren? Wie konnte der Bus den Fahrradfahrer anfahren und wieso hat er nicht gewartet bis die Fußgängerampel grün wurde, anstatt quer über die Kreuzung zu fahren? Das alles wäre nicht passiert wenn er... hmm... es ist nutzlos sich über die möglichen Ursachen aufzuregen. Es ist passiert und niemand kann es rückgängig machen. Leider. Ich hoffe dem Fahrradfahrer geht es gut und er ist nicht ernsthaft verletzt. Ich hoffe der Busfahrer steht nicht zu sehr unter Schock und kann bald wieder fahren. Bei wem aber die Schuld liegt, weiss ich nicht.

Meine Matheklausur erscheint mir jetzt unwichtiger als alles andere. Ich bin nicht verletzt, ich hatte keinen Unfall, mir geht es gut und ich habe keinen wirklichen Grund mich zu beschweren. Es ist nur eine Note von vielen und ich werde sie wieder ausgleichen können, aber der Fahrradfahrer wird vielleicht für immer die Narben behalten und die Angst in sich tragen, und der Busfahrer wird nie wieder ohne Bedenken fahren können. Es wird ihn bis in seine Träume verfolgen. Es ist komisch, wie unwichtig Probleme erscheinen können, die man bis vor einer Minute noch hatte, wenn man dann sieht was es wirklich heißt ein Problem zu haben. Manchmal vergessen wir im Leben, dass sich nicht alles nur um uns dreht. Jeder ist so sehr mit sich selbst beschäftigt. Stress, vermeintliche Probleme, das alles ist Alltag. Wir müssen endlich die Augen öffnen um zu sehen, dass das Leben auch schöne Zeiten für uns bereit hält und dass wir Tage, die von Ärger und Trauer geprägt sind, mit unseren Freunden und unserer Familie überwinden können. Es gibt so viele Menschen, denen es schlechter geht als uns, Menschen die jeden Tag neu um ihr Überleben kämpfen müssen, ohne ausreichend Nahrung, mitten in Krankheit und Tod. Wir sollten diese Menschen nicht vergessen, etwas für sie tun und dafür dankbar sein, dass unser Leben so ist wie es ist. Wenn ihr euch das nächste Mal über etwas aufregt, wenn ihr traurig seid oder verletzt, dann denkt daran, dass diese Zeit auch wieder vorbei geht, denn das Leben ist zu kurz um es hinter dunklen Wolken zu verbringen, wenn die Sonne doch scheinen könnte.

Autorin / Autor: midnightsun - Stand: 8. Februar 2005