1+1=2

"Sophie,", sagte sie in einem erschreckend ernsten Tonfall "wir bekommen ein Baby!"

Eine schwere Geburt

"Sophie, ich muss mit dir reden", sagte meine Mutter und seufzte. Ich kannte diese Leier. Wenn es zu einem ernsten Gespräch in der Küche kam, handelte es sich meistens darum, dass ich mit Thomas allein bleiben sollte, weil Mama zu einer Fortbildung nach München musste. Natürlich kannte sie meine Antwort: Nie im Leben! Mit dem schrecklichen Thomas über's Wochenende allein zu Hause zu bleiben war wirklich scheußlich! Dauernd fragte er mich nach meinem Wohlbefinden, kochte einen seiner entsetzlichen Lindenblütenteesorten (dem Mann ist echt nicht mehr zuhelfen, wer trinkt schon freiwillig Lindenblütentee?). Oder er bot mir einen seiner selbstgebackenen Plätzchen (er macht sie IMMER selber! Oh Gott!) an.

Thomas war Mamas neuer Mann. Seit Papa vor sechs Jahren, als ich acht war, die Fliege gemacht hatte, lernte Mama Thomas kennen, verliebte sich in ihn und heiratete ihn. (Und das nach nur einem Jahr!) Ich will meinen Mann mindestens vier Jahre lang kennen, um ihn zu heiraten! Bei der Hochzeit kannte ich Thomas noch nicht so gut und deshalb hielt ich, als der Pfarrer sagte: "Wer gegen diese Ehe etwas einzuwenden hat, der möge jetzt sprechen" meinen Mund. Was ein großer Fehler war, weil ich noch nicht wusste, auf was ich mich da einließ. Mama stellte also den dampfenden Tee auf den Küchentisch, holte Thomas Plätzchen heraus und räusperte sich. "Muss du diesmal nach Tunis fliegen?", witzelte ich und schob sehr abweisend den Plätzchenteller von mir. Mama schaute gereizt, doch dann legte sie Thomas eine Hand auf seine meterlangen Knie (wenn ich vor ihm stehe, muss ich den Kopf in den Nacken legen) und fing an zu sprechen: "Also, ähm, ich muss dir etwas sagen..."

Endlich ein neuer Hund?!

Sie machte eine Kunstpause, wechselte einen merkwürdigen Blick mit dem schrecklichen Thomas und fuhr dann fort: "Okay, wir, äh, wir bekommen ein neues Familienmitglied." Ich sprang auf und hüpfte im Kreis herum. "Ihr seid echt die Größten!", jubelte ich und fiel dann Mama um den Hals. Thomas gab ich lieber nur die Hand. Mama und der schreckliche Thomas blickten sich erstaunt an. Doch ich ließ mich nicht beirren. "Ich habe mir doch schon immer einen Hund gewünscht!" Nun schluckte Mama und Thomas legte ihr beruhigend die Hand auf die Stirn. Sie stand auf, lief zum Kühlschrank und verdrückte eine Mettwurst, drei Karamelbonbons und danach noch zwei Essiggurken. Bah, mir wurde schon ganz schlecht! "Also, es ist kein Hund, Sophielein.", meinte Mama endlich und ich verzog bei meinem Namen kurz das Gesicht. Doch dann hatte ich Mama schon durchschaut. "Egal, ich nehme auch einen Vogel, eine Katze oder einen Hamster." Thomas schüttelte sanft den Kopf. Er sah aus wie eine wackelnde Melone. "Ein Meerschwein?", versuchte ich weiter. "Ratte, Schlange, Fische, Echse?" Mama fasste nach meiner Hand. "Sophie,", sagte sie in einem erschreckend ernsten Tonfall. "wir bekommen ein Baby!" Sofort ließ ich Mamas Hand los. "Was?", fragte ich tonlos, obwohl ich diesen Satz ganz genau gehört hatte. Ein Baby also, ein sabberndes, schreiendes Baby. Irgendwie wurde mir ganz fürchterlich schlecht. Da Mama nun den gefürchteten Satz ausgesprochen hatte, dachte sie wohl, ich würde mich irre darauf freuen. Darum verkündete sie auch schon: "Wenn es ein Mädchen wird, soll es Sabine heißen und für einen Jungen würde Oskar schön klingen." Ich sprang auf und rannte in mein Zimmer. "Nennt es doch Wilhelm oder Susanne!", brüllte ich in tiefster Ironie zurück. "Oh ja, dann können wir es Susi oder Willi nennen!", rief Mama mir entzückt hinterher. So ein Schwachsinn! Susi oder Willi!

Was das nur gibt?

Ich warf mich auf mein Bett und heulte. Ein Baby schrie nur, hatte keine Haare, sabberte, ließ sich die Windeln auswechseln und konnte nicht sprechen! Was also sollte ich an ihm toll finden? Plötzlich kam Thomas in mein Zimmer. Ehe ich etwas sagen konnte, fing er an zu reden. Von seinem Stiefvater und dass der und seine Mutter ein Baby bekommen hätten. Also früher, als Thomas noch klein war. Da hatte er sich überhaupt nicht darauf gefreut. Ein Baby würde nur schreien, hätte keine Haare, sabberte nur, ließ sich die Windeln wechseln und konnte nicht sprechen! Hey, dachte ich. Kann der Gedanken lesen? Doch irgendwann hatte Thomas das Baby ganz toll gefunden und dann wurde sein Stiefvater auch total nett. Außerdem sagte er, dass ich mir den Namen des Kindes überlegen dürfte. "Na toll", dachte ich. Was hilft mir das jetzt? Ohne Vorankündigung gab er mir plötzlich zwei Bücher. Ein Buch mit dem Titel "Die große Schwester hilft" und eine anderes "1+1=2 - Wieso denn noch ein Kind?". "Die sollen ganz gut sein!", meinte Thomas. Dann ging er. Ich griff nach 1+1=2 und besah es mir kurz. Na ja, vielleicht konnte man es ja doch lesen. Vielleicht würde ich Mama dann zeigen, wie man ein Baby richtig wickelt und so. Das wäre ja voll cool! Und Thomas war auch ganz in Ordnung. Welcher schrecklicher Vater würde seinem Kind den Namen von seinem anderen Kind überlassen? Hey, hatte ich da gerade "Vater" gesagt? Na ja, irgendwie bringt ein Kind ziemlich viel Aufregung in ein Leben. Vielleicht kann ich Mama ja doch noch zu "Lisa" oder "Jan" überreden...

Autorin / Autor: Schnucki1 - Stand: 22. Mai 2002