Schneller, höher, besser

Kurzgeschichte von Mia-Marie Weindorf, 16 Jahre

Meine Beine werden langsam müde. Zuerst macht das linke schlapp. Anfangs ist es nur ein Kribbeln, ausgehend von meinem Fuß, das sich unaufhaltsam einen Weg das komplette Bein hochbahnt. Nach einer Stunde wird aus dem Kribbeln ein Krampf. Ich beiße mir auf die Lippe und kämpfe gegen das Bedürfnis an, mich hinzusetzen. Ich ignoriere den Schmerz. Konzentriere mich auf die einfachen Handbewegungen. Nehmen, Schraube rein, drehen, weglegen. Weiter. Nehmen, Schraube rein, drehen, weglegen. Das Fließband rattert unter mir unaufhaltsam weiter. Es macht nie halt. Nimmt keine Rücksicht. Wie das Leben. Immer weiter. Es ist nicht fair, nimmt keine Rücksicht, läuft einfach immer weiter. Mit dir, oder ohne dich. Es ist keine anspruchsvolle Arbeit. Es ist keine schöne Arbeit. Aber es ist eine Arbeit. Und das ist immerhin besser als nichts. Also arbeite ich schnell und präzise, hebe den Kopf nur, wenn meine Schicht zu Ende geht. Zwölf Stunden sind eine lange Zeit, besonders wenn man sich zu Tode langweilt. Meine Hände bewegen sich ohne mein Zutun, ganz von selbst. Ein eingespielter Rhythmus. Ich versuche nicht an meinen Durst zu denken, der in meiner Kehle brennt, an meinen knurrenden Magen oder meine Müdigkeit. Auch nicht daran, dass ich mir seit zwei Stunden das Pinkeln verkneife. Ich muss durchhalten. Ich muss. Manchmal werden die Gedanken in meinem Kopf lauter als das Rattern des Bandes, das Zischen von Dampf und das nie endende Klackern der Maschinen. Ich wünschte meine Gedanken wären niemals lauter. Das würde die Dinge einfacher machen. Ich denke an diejenigen, die nicht arbeiten müssen. Entweder, weil sie keine Arbeit gefunden haben, oder, weil sie es nicht mehr nötig haben.
In unserer Zeit gibt es nur noch zwei Kategorien von Menschen: die Armen und die Reichen. Keine Mittelschicht. Kein Mittelmaß. Nur Hungersnöte neben Luxus, Bettlern und Protzern. Die Unterschicht verhungert vor den Schaufenstern von Restaurants, in denen Kavier serviert wird und sich die Besucher den Finger in den Hals stecken, um nicht dicker zu werden, um nicht von dem Reichtum, den sie besitzen, überzuquellen. Zwei Extreme. Unschwer zu erraten, an welchem Ende der Nahrungskette ich mich befinde.
Ich bin nicht dumm. In der Schule, die ich besucht habe, war ich eine der besten. Motiviert, Ehrgeizig und bereit, dem Land zu dienen. Ein Vorzeigemensch des Staates. Aber ich bin auf der falschen Seite geboren worden. Meine Eltern sind einfache Leute, Fabrikarbeiter, so wie ich heute. Sie haben sich die Studiengebühren einfach nicht leisten können. Es spielt keine Rolle, dass ich klug bin und bereit, alles zu geben, was ich zu bieten habe. Wer das Geld hat, dem stehen alle Türen offen, dem liegt die Welt zu Füßen. Ich kann nicht studieren, um einen Beruf zu ergreifen, der mich aus diesem Drecksloch herausholt, der den Teufelskreislauf durchbricht. Ich suchte nach einer Arbeitsstelle, weil ich nicht verhungern wollte. Weil der Staat schon lange nicht mehr die tolerierte, die sich auf seine Kosten auf die faule Haut legen. So etwas gibt es nicht mehr. Friss oder stirb. Das ist das Motto. Und ich habe gefressen. Schließlich bin ich in dieser Fabrik gelandet. Zwölf Stunden am Tag. Sieben Tage die Woche. Kein Urlaub. Bezahlung mies. Aber es ist die Rettung. Ich werde vor einem Leben auf der Straße bewahrt. Also gebe ich mein bestes. Tag ein Tag aus. Ohne Pause. Starre auf das Band und erledige meine Arbeit. Nehmen, Schraube rein, drehen, weglegen. Keinen Ärger machen. Ab und an ein Lob des Chefs bekommen, der in einem Anzug zu uns herunterkommt, der mehr wert ist, als meine monatliche Miene. Nicht drüber nachdenken. Lächeln und weiterarbeiten.
Dein Land ist stolz auf dich. Auf Menschen, die hart arbeiten und alles geben. Selbst wenn alles nicht genug ist. Denn alles ist niemals genug. Wir sollen uns stets verbessern, länger und härter arbeiten, niemals zufrieden sein. Selbst wenn unser hartes Schaffen unsere Situation kaum verbessert. Das ist der Mensch, den der Staat sehen möchte. Das wird uns schon im Kindergarten eingeflößt. Das ist die einzige Art Mensch, die akzeptiert wird. Höher, schneller, besser. Selbst wenn du immer in dieser Fabrik bleibst, diene deinem Land. Es gibt nur diese Zukunft für mich. Die Armen werden immer ärmer und die Reichen immer reicher. Die einen ersticken an Geld, die anderen verhungern elendig. Die einen leben ein langes Leben im Luxus, die anderen verrecken ohne je gelebt zu haben.
Ob ich es unfair finde? Ich kenne es nicht anders. Ich habe von Leuten gehört, die durchgedreht sind. Sie haben dem Druck nicht standgehalten. Sie sind zerbrochen. Einfach durchgeknallt. Sie haben sich von Brücken gestürzt, oder Wolkenkratzern, vor Autos geworfen und sich die Pulsadern aufgeschlitzt. Alles nur um diesem Leben zu entkommen. Wenn man das überhaupt ein Leben nennen kann. Sie passen nicht in ein System, das keine Ausnahme, keine Abweichungen und keine Individuen duldet. Der Staat nennt diese Menschen Versager, oder Feiglinge. Zu schwach für das System. Ich kenne die Wahrheit. Nicht der einzelne Mensch zählt, sondern die Arbeit, die er darbringt. Nur das zählt. Nur das wird anerkannt. Menschen sollen perfekt sein. Kalt, logisch und unentwegt am Leistung erbringen. Wie eine Maschine. Auch wenn wir keine Maschinen sind. Wir machen Fehler, stolpern, verlieren unseren Kurs. Solche Dinge dürfen sich nicht häufen, sonst ist man raus. Wer sich nicht anpasst, trägt die Konsequenzen, wird bestraft.
Gib deine Identität, deine Träume, dein Leben für die Arbeit auf. So ist das nun mal. Geburt, Kindergarten, Schule, Arbeit, Tod. Wir arbeiten unsere Kindheit auf die Arbeit hin, um diese dann auszuführen und dann abzutreten. Mach keinen Ärger, tanz nicht aus der Reihe. Arbeite. Das soll es dann gewesen sein? Ich soll nicht mehr hoffen, ich darf nicht mehr hoffen. Etwas Besseres gibt es nicht. Friss oder stirb. Ich lockere meine müden Beine, halte meine erschöpften Augen offen. Ich mache weiter. Bis an mein Lebensende. Die Alternative ist das Leben auf der Straße. Tod durch Hunger, Kälte, oder Schlimmeres. Ich habe mich entschieden. Friss oder stirb. Nehmen, Schraube rein, drehen, weglegen. Nehmen, Schrauben rein, drehen, weglegen. Und immer so weiter.

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Autorin / Autor: Mia-Marie Weindorf, 16 Jahre