Einsamkeit im Schnee

Sicht der Welt wie durch eine beschlagene Fensterscheibe

Schneeflocken klatschten leise auf die Windschutzscheibe, als Friederike M. beschleunigte. Sie musste sich beeilen, vielleicht konnte sie Kay noch rechtzeitig erreichen. Blendendes Weiß umgab sie jäh, der Wagen bog in eine Landstraße ein. Nach und nach verstummte der restliche Verkehrslärm, nur noch das gleichmäßige Surren des Motors erfüllte die glasklare Luft. Schneller! Wenn sie zu spät käme, würde sie ihn dann je wieder sehen? Friederike spürte die Angst, wie sie kalt und grausam ihre Lungen zu umklammern schien. Der Schweiß brach ihr aus, die Hände zitterten bleich, während der Wagen über die verschneite Landstraße brauste. Was würde er von ihr denken? Hatte Kay sie schon aufgegeben nach allem, was geschehen war? Immerhin galt sie seit letztem Mittwoch als vermisst, ihr Bild stand in der Zeitung, jeder Hinweis war erbeten. Der Schnee fiel dichter oder doch nicht? Friederike wurde abrupt klar, dass sie seit gestern Mittag nichts mehr gegessen hatte.

Plötzlich schienen die von Eiszapfen schweren Tannen sich zu drehen, sie kniff die Augen zusammen, versuchte sich zu beherrschen. Bewegte sich da nicht etwas zwischen den Bäumen? Ein Reh? Sekundenlang schien die Welt für Friederike still zu stehen, sie sah ihn ganz klar und deutlich aus dem Wald treten. Kay! Ihre Umgebung schrie ihr förmlich bittere Helligkeit in die Augen, dann war alles dunkel. Stille und tiefste Finsternis umgaben sie, während ihre Hände zittrig um sich tasteten. Nichts – vollkommene Leere! Ihr Kopf begann erst leise, dann immer lauter zu dröhnen, sie glaubte plötzlich etwas zu spüren. Friederike schlug die Augen auf. Die Welt stand Kopf und glich der Sicht durch eine beschlagene Fensterscheibe. Nach und nach kehrte ihre Wahrnehmung zurück, ein stechender Schmerz ließ sie aufschreien. Nein, kein Laut ließ sich vernehmen. Sie lag mit dem Kopf, in dem es wie rasend dröhnte, nach unten, die Beine ohne jegliches Gefühl, eingeklemmt zwischen Wagentür und Erdboden, im Schnee. Einen Augenblick lang, eine winzige Sekunde hindurch, wollte Friederike sich einreden, es sei alles nur ein Traum und gleich würde Kay sie wecken kommen. So, wie er es immer tat oder getan hatte, vor langer Zeit. Langsam realisierte sie, dass sie so nicht ewig liegen bleiben konnte. Ein weiterer Versuch des Schreiens, doch wieder dieser Schmerz, der sie keinen Ton von sich geben ließ. Ihr Atem stand bläulich-weiß über ihr, sie hörte das Blut in ihrem Kopf rauschen.

Ein Hustenanfall zerstörte die eisige Stille und rötlich verfärbte sich der Schnee um sie herum. Wie viel Zeit mochte schon vergangen sein? Sie suchte mit den Augen die Sonne, fiebrig schien diese am Himmel zu stehen. Verschwommene Flecken, die sich unaufhörlich bewegten, rieselten auf sie herunter. Die Zeit stand still. Glasklar lag die Kälte wie eine hauchdünne Schicht auf Friederikes Gesicht, es schien ihr, als sei sie in einem winzigen Sarg aus Glas gefangen, der jegliches Geräusch ihrer Umgebung abdämpfte. Doch, war da nicht ein leises Knirschen, ein Laut, wie er entsteht, wenn ein Stiefel auf gefrorenen Schnee tritt? Oder spielte ihr ihre Fantasie – ihr Wunschdenken - einen Streich? Eine Bewegung, ein Abrutschen der Schneeschicht, auf der sie lag, ließ sie zusammenzucken. Friederike glaubte zu schweben, fühlte die grausame Hilflosigkeit. Fiel da nicht Schnee von einem Tannenzweig, verursacht durch eine Bewegung? Sie versuchte zu blinzeln, ihre Sinne zu beherrschen, eine klarere Sicht, einen kurzen Blick zu erhaschen. Es war ihr unmöglich. Wie Riesen erhoben sich die schneeschweren Tannen, begannen erneut sich zu drehen.

Friederike wollte den Kopf drehen, dem Geräusch entgegen sehen, doch sie war völlig bewegungsunfähig. Ein Schwächeanfall wollte sie überwältigen, die Dunkelheit wieder Gewalt über sie ausüben. Nein! Panik lies sie ihre Augen ein weiteres Mal aufschlagen. Alles verschwamm, drehte sich immer schneller. „Hilf mir“, dachte sie. „Hilf mir, Kay!“ Doch Kay konnte sie nicht hören, konnte ihr nicht helfen, denn er war weit weg. Ob er ihr überhaupt geholfen hätte, selbst, wenn es möglich gewesen wäre? Nach allem, was geschehen war, dachte er da überhaupt noch an sie, an seine kleine Schwester? Ihre Gedanken schienen zu gefrieren, die Welt stand still. Noch einmal dieser Laut der Hoffnung, bevor die Schwäche wieder siegte. Dunkelheit verschlang Friederike M., als sie im letzten Licht ihrer Wahrnehmung jemanden über sich gebeugt sah...

Autorin / Autor: MikaMaus - Stand: 24. Dezember 2003