Körper.Los

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Petra (58)

"Betty, Betty, du hast ja schon wieder dein Essen nicht
angerührt. Du kannst doch nicht den ganzen Tag mit dieser
Maschine verbringen!"
Die vorwurfsvolle Stimme der Mutter schallt in ihr Zimmer
oben im Dachgeschoss des kleinen, rot verklinkerten
Siedlungshauses in Berne in einem der ruhigen Wohnviertel in
Hamburgs Nordosten gelegen.
"Die Maschine, das ist mein Computer, und den brauche ich
schließlich, um mein Geld zu verdienen", stellt Betty klar
und macht sich darauf gefasst, dass ihre Mutter sie gleich
auf ihren fehlenden Freund anspricht.
"Du musst nun aber wirklich mal unter Menschen gehen. So
ganz von allein kommt hier bestimmt kein Traumprinz für dich
anspaziert."
"Da wären wir ja mal wieder beim Thema." Die schlanke
Gestalt Bettys erscheint auf den Treppenstufen. Das Ansinnen
ihrer Mutter ist für sie völlig abwegig und verliert auch
durch die ständigen Wiederholungen nichts von seinem
Schrecken. Seit ihrer Schulzeit haben ihre sowieso schon
spärlichen sozialen Kontakte immer weiter abgenommen,
eigentlich ohne ihr Zutun. Ihr Psychologie-Studium an der
Fernuniversität hat sie konsequenterweise abgebrochen. Als
Zumutung hatte sie es empfunden, irgendwo persönlich
erscheinen zu müssen und zweifelte an der Berechtigung der
Bezeichnung "Fernuniversität". In ihrem Beruf als
Briefkastentante, wie ihre Mutter ihn abfällig bezeichnet,
kann sie nun wenigstens das Gelernte anwenden. Als sie sich
zu ihrer Mutter an den alten, hölzernen Küchentisch setzt,
um mit ihr gemeinsam zu essen, kommt ihr plötzlich eine
Idee, und sie fragt sich, warum sie nicht schon früher
darauf gekommen ist. Zögernd beginnt sie, ihrer Mutter von
einem jungen Mann zu erzählen, den sie kennengelernt haben
will. Ihre Erzählung wird immer flüssiger, und es kommen
immer mehr Details dazu. Sie sei im Berner Gutspark
spazieren gegangen. Die milde Frühlingsluft habe sie dazu
verlockt. Und da sei sie ihm dann begegnet. Mehr ist
allerdings nicht aus ihr herauszubekommen. Insbesondere mit
der Beschreibung des Mannes hält sie sich zurück. Dafür sei
es noch zu früh.
An ihrem Computer begibt Betty sich nun auf die Suche nach
einem Mann, den sie im Park getroffen haben könnte, ein
schwieriges Unterfangen, was sie einiges an Arbeit kostet.
Als sie ihr Vorhaben schon aufgeben will, gelangt sie
schließlich auf ungewöhnlichem Wege und als zufällig
scheinendes Nebenprodukt, nämlich auf einer Suche nach
Computerkursen in der Nähe ihres Wohnortes zu ihrem Ziel.

Johannes Bauer unterrichtet als Dozent an der
Volkshochschule in Farmsen, dem benachbarten Stadtteil, das
Fach Informatik. Unter dem Vorwand, an einem seiner Kurse
teilnehmen zu wollen, nimmt sie per elektronischer Post
Kontakt zu ihm auf. Johannes nimmt den Ball an und spielt
ihn zu ihr zurück. So finden beide nach und nach heraus,
dass sie tatsächlich zueinander passen würden, theoretisch
jedenfalls. Ihre Interessen stimmen überein, besonders das,
möglichst viel Zeit allein vor ihrem Computer zu verbringen.

Johannes, nur wenig jünger als Betty, bringt sie mit seinen
Nachrichten sogar zum Lachen. Beide leben in ganz ähnlichen
Verhältnissen und verspüren gleich wenig Antrieb, sich von
Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Dennoch
intensiviert sich ihre Beziehung, wenn auch eben nur auf der
virtuellen Ebene. So sorgen sie beide ständig für neuen
Stoff und so kann Betty ihrer Mutter Elisabeth und Johannes
seinem Vater Ewald, in dessen rot verklinkerten
Siedlungshaus er das obere Stockwerk bewohnt, von ihrer
Freundschaft erzählen. Um dies anschaulicher gestalten zu
können, schicken sie sich sogar Fotos im Anhang.

Elisabeth findet über die Angaben ihrer Tochter wie Namen
und Beruf die Adresse von Johannes heraus. Sie macht sich
auf den kurzen Weg in die Parallelstraße, durchschreitet den
kleinen Vorgarten und drückt beherzt auf den Knopf für die
Türklingel. Schwungvoll öffnet Ewald die Tür, und Elisabeth
trifft der Schlag angesichts seiner imposanten Erscheinung.
Er strahlt sie an, bittet sie, näher zu treten, weicht einen
Schritt zurück, um der schönen Frau Platz zu machen in dem
engen Eingang, sie setzt den Fuß auf die Schwelle, rutscht
ungeschickt ab und fällt ihm direkt in die ausgebreiteten
Arme. Wie ein Blitzschlag trifft es nun beide. Es ist Liebe
auf den ersten Blick und kein bisschen körperlos.

Drei Monate später findet die Verlobung von Elisabeth und
Ewald statt. Elisabeth zieht zu Ewald in sein Siedlungshaus.
Dort räumt sein Sohn Johannes die obere Etage und trägt
seine Sachen, allen voran Computer, Drucker und was sonst
noch dazu gehört, in die Wohnung seiner zukünftigen
Stiefmutter Elisabeth. Das Einverständnis der Jungen für
diese Regelung konnten sich die Eltern nur dadurch erkaufen,
dass sie einen separaten Zugang zum Haus direkt in das obere
Stockwerk anbauen ließen.

Betty und Johannes, die nun das selbe Haus bewohnen, gehen
sich konsequent aus dem Weg und halten den Kontakt
zueinander und nun auch zu ihren Eltern virtuell und völlig
körperlos.

Autorin / Autor: Petra