Die Illusion des Spiegels

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Tamilnadu, 28 Jahre

Morgens schalte ich als erstes den Rechner an. Es gibt viel zu tun. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand schaue ich mir die Kommentare an. Habe vier neue Freunde gefunden, obwohl ich nur kurz auf der Party war und das coole Foto von gestern haben auch genug Leute gesehen. Super viele Kommentare und Likes wurden hinzugefügt. Ich habe eigentlich gar nicht die Zeit alle in Ruhe durchzuschauen. Müsste nämlich los, also theoretisch zumindest.

Werde kurz in die Uni schauen, ein Foto vom vollen Hörsaal machen, direkt posten, ein Selfie mit Kaffebecher und Buch vor der Bibliothek, direkt posten und dann ab in die Stadt. Wir treffen uns beim Stephansdom, damit ich gleich noch ein Bild von uns mit dem Dom machen kann, damit auch jeder weiß in was für einer coolen Stadt wir studieren und dann - natürlich posten. Danach ein wenig shoppen und Kaffee, klar, wieder ein paar Fotos und gleich posten. Am Abend gibt es dann den Eröffnungsfilm von irgendeinem Filmfestival.

Kino ist eigentlich nicht so meins, aber was kulturelles ab und zu macht sich immer gut und nur Oper und Theater ist dann auf die Dauer doch irgendwie oldschool. Das Kinoticket brauch ich später sowieso für die Eröffnungsparty. Also in der Theorie. Werde wieder nur kurz hinschauen. Fünf Minuten, ein Foto, vier neue Freunde und ab ins Bett. Ich gehe gerne früh schlafen, im Gegensatz zu meinem zweiten Ich. Ich bleibe auch lieber am Wochenende zu Hause, lese ein gutes Buch, schaue den Regentropfen zu wie sie an der Scheibe herablaufen und kümmere mich um meine Katze. Stattdessen war ich letztes Wochenende beim Surf-Opening am Neusiedlersee, im Regen. Wir haben total gefroren, aber super Fotos hingekriegt.

Manchmal bin ich selbst etwas erstaunt darüber was ich so Alles erlebe. Und nicht nur ich. Früher in der Schule war ich eher der Typ Außenseiter. Abgestempelt als doof, langweilig, Brillenschlange oder auch verrückte Katzenfrau. Jetzt können sich die meisten kaum noch halten und fragen sich wie ich das Alles mache. So viel erleben und dann auch noch studieren. Habe allen geschrieben, dass wir nächstes Wochenende nach Linz fahren, mit Moritz meinem neuen Freund. Moritz ist natürlich auch ganz toll, studiert auch Psychologie, total sportlich und auch sonst einfach ein total cooler Typ. Sieht man ja sobald man auf seine Seite schaut. Während ich hier auf meiner Couch sitze und immer noch dabei bin die ganzen Kommentare auszuwerten bin ich wieder Single. Denn Moritz gibt es nur virtuell. Moritz heißt eigentlich Felix und kennen gelernt haben wir uns im Psychologiestudium. Genauer gesagt in einem Seminar zur Selbstinszenierung in den sozialen Medien mit dem Titel Die Illusion des Spiegels. Nachdem wir nun wochenlang die Theorie gebüffelt haben gibt es zum Abschluss eine experimentelle Phase und wir
inszenieren uns selbst.

Damit es nicht so aufwendig wird, haben wir die meisten Fotos an ein paar Tagen gemacht. Ein Shooting vor der Bibliothek mit Kaffee und ein paar Tüten vom Bäcker, Deli oder ähnlichem. Einmal alle Clubs der Stadt durchtanzt. Natürlich immer mit verschiedenen Outfits im Gepäck. Und die Reisen. Naja, am Neusiedlersee waren wir wirklich, im Regen und es war kalt. Aber wir haben uns nach getaner Arbeit noch einen Katamaran gemietet und das Beste aus Wind und Wetter gemacht. Ebenfalls nach Linz werden wir fahren, aber neben der Fotos nutzen wir die Reise auch zum Durchsprechen der Arbeit und für wirkliche Erlebnisse. Am Ende ist das Ganze doch nur heiße Luft, wie Moritz.

Wie aus Felix Moritz wurde ist schnell zu erklären. Felix war einfach zu aktiv im virtuellen sozialen Leben. Und warum das niemand erkennt. Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Photoshop. Viele unserer Fotos haben wir damit bearbeitet. Der Griechenlandtrip über die Semesterferien wäre für die meisten aus unserer Forschungsgruppe nicht drin gewesen. So war mit ein paar Klicks Alles erledigt. Der ganze Aufwand ist natürlich nicht lediglich für ein einfaches Seminar. Wir arbeiten an unserer Abschlussarbeit und haben uns eben nach Interessensgebieten zusammengefunden. Interessensgebieten für die Forschungsarbeit.

Privat sind wir ganz verschieden. Viel unterschiedlicher als das je ein soziales Netzwerk abbilden könnte. Manche gehen wirklich gerne shoppen und treffen sich Nachmittags auf ein Sandwich im Deli. Andere lernen wirklich in der Bibliothek und nehmen sich ein Pausenbrot mit. Manche gehen gerne in die Oper, andere eher ins Kino. Und wieder andere haben wirklich schon einige der Bücher gelesen, die wir alle geliket haben. Eines muss ich natürlich zugeben. Es hat Spaß gemacht und ein bisschen freue ich mich auch schon auf unser Klassentreffen. Den Account wird es bis dahin natürlich nicht mehr geben, denn mein virtuelles Ich geht nach China und da weht nun mal ein anderer Wind. Dass das nicht stimmt
wird wohl nie jemand von meinen virtuellen Freunden erfahren, denn eigentlich interessiert sich sowieso keiner wirklich für mich. Aber durch die ganze Arbeit haben wir neben ein paar virtuellen Freunden vor allem reale gefunden. Verbunden durch gemeinsame Erlebnisse, nicht nur durch ein paar Klicks. Erlebnisse die bleiben auch wenn die Seite irgendwann Mal down ist. Was aus mir und Moritz wird bleibt offen. Manche in der Gruppe spekulieren schon. Seine Seite wird leider aus persönlichen Gründen offline gehen. Ob ihn einer seiner Freunde vermissen wird?