Game Over

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Elisabeth, 12 Jahre

Während er über einen großen Stapel Steine sprang, schleuderte er einen Felsbrocken nach seinem Angreifer. Jedoch verfehlte dieser den Bergtroll. Mit weiteren Steinwürfen drängte er ihn in einen Felsspalt, in dem der Troll stecken blieb. Auf diesen Augenblick hatte er wochenlang gewartet. Er zog sein Schwert aus seinem Gürtel und schwang es nach hinten, um zu einem Schlag auszuholen, der dem Feind zweifellos die Kehle durchtrennen würde. Doch plötzlich verspürte er einen stechenden Schmerz an seiner Schläfe und alles wurde schwarz.
Fluchend fuhr sich Moritz mit der Hand an den Kopf und warf das Radiergummi, mit dem ihn seine Schwester Emilia getroffen hatte, hinter dieser her und jagte sie durch das Treppenhaus. Er packte sie an dem Kragen ihres Kleides und nahm sie in den Schwitzkasten. „Bist du bescheuert?“, fragte er, ihr Geschrei übertönend. „Fast hätte ich den Troll besiegt, WARUM hast du den Stecker rausgezogen?“

„Moritz! Lass deine Schwester los!“ Seine Mutter war aus der Küche gekommen und bedachte die beiden Geschwister mit einem missbilligenden Blick.
„Em hat mein Spiel abgebrochen“, beschwerte sich Moritz. „Ich hatte es fast geschafft!“
„Du bist blöd!“, entgegnete Emilia. „Nie spielst du mit mir Fußball! Immer spielst du dieses bescheuerte Crash Mountain!“

Moritz seufzte. Seit seine fünfjährige Schwester der Fußball-Bambini-Mannschaft ihres Ortes beigetreten war, wollte sie den ganzen Tag im Garten trainieren. Nervig! Seine eigenen sportlichen Aktivitäten beschränkten sich größtenteils auf das Bewegen und Drücken der Tasten auf seinem Kontroler.
„Hört auf euch zu streiten, sonst …“ Doch der Geruch nach stark nach verbranntem Essen ließ sie stocken, und sie begab sie sich leise fluchend in die Küche zurück. Moritz drehte sich noch einmal zu seiner Schwester um und rannte zurück in sein Zimmer, um sein Spiel fortzusetzten. Als er den Stecker wieder eingesteckt hatte und den Kontroler in die Hände nahm, merkte er es das erste Mal. Seine linke Hand schien kurz verpixelt. Daran festhaltend, dass dieses nur eine Einbildung gewesen sei, begann er das Spiel erneut. Es kribbelte nun in beiden Händen, doch er kümmerte sich nicht darum. Er konzentrierte sich einzig darauf, sich durch die Grafik des Online Games zu schlagen, um ganz oben auf der Highscore-Liste zu stehen. Während sein Avatar über eine unebene Landschaft lief, kam die rettende Oase in Sicht. Davor musste er allerdings noch an dem Bergtroll vorbeikommen. Nur so konnte er seinen Rivalen Mark24 übertreffen, welcher ihm schon so oft den ersten Platz der Highscore-Liste genommen hatte. Mark war zu allem Überfluss auch noch in seiner Klasse und verfolgte jede seiner aufgestellten Punktzahlen und teilte sie am folgenden Tag fast immer der gesamten Klasse mit.

Die Landschaft kam immer näher und plötzlich wurde es für einen kurzen Moment blendend weiß vor Moritz‘ Augen. Als er wieder klar sehen konnte, blickte er auf seinen restlichen Körper hinunter und stieß einen Schrei aus. Sein Körper, oder vielmehr das, was früher einmal sein Körper gewesen war, löste sich in unzählige Pixel auf und setzte sich danach so zusammen, dass Moritz nun genau die gleiche Statur und Kleidung der Figur in seinem Videospiel angenommen hatte. Entgeistert blickte er auf und bemerkte, dass er auf unebenem steinigem Grund stand. Unmöglich! Er war in seinem Videospiel gelandet! In der Ferne erblickte er die Oase und einem plötzlichen Gedanken zufolge begann er so schnell er konnte loszurennen. Er bemerkte, dass er viel schneller und leichter als im richtigen Leben rennen konnte, da er recht breit gebaut war. Leider hatte er mit seiner Vermutung recht gehabt. Der Troll! Er musste, vorausgesetzt, dass dies hier wahrhaftig das Spiel war, in Kürze zu ihm stoßen und ihn angreifen. In diesem Moment spürte Moritz bereits, wie der Boden unter seinen Füßen zu beben begann, und hörte ein Grölen. Er drehte sich hastig um und sprang gerade rechtzeitig zur Seite, um der Keule des Monsters zu entrinnen. Schnell rappelte er sich auf und rannte weiter auf die Oase zu. Ein weiterer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Bevor er hierhin gekommen war, hatte er bzw. sein Avatar nur noch ein Leben gehabt, was hieß, dass es, falls er sich außer Gefecht setzen ließ, GAME OVER für ihn bedeutete. Die Oase war nun nur noch wenige Meter entfernt, doch der Troll verstellte ihm den Weg und holte erneut zum Schlag aus.

Plötzlich ging alles sehr schnell. Während der Troll schrie, riss Moritz ein Schwert aus seinem Gürtel und stieß es nach vorne. Da die Brust des Trolls ungedeckt gewesen war, versank die Klinge mit einem dumpfen Geräusch in dem Körper des Ungeheuers. Es stieß einen tiefen Schmerzensschrei aus und kippte kopfüber in den Matsch. Einige Augenblicke starrte Moritz vollkommen perplex auf sein Opfer, doch dann wurde ihm eines klar. Videospiele wie diese sind vollkommen nutzlos für mich. Denn in Echt bin ich weder schnell, noch trage ich ein Schwert bei mir. In Echt durchlebe nicht ich die Abenteuer, sondern eine vom Server gesteuerte Figur, sodass ich eigentlich eine Menge Zeit meines Lebens dazu verschwendet habe, mit meinen Fingern auf irgendwelche Tasten zu schlagen. Als dieser Gedanke ihn erreichte, schrie Moritz so laut er konnte: „ Holt mich hier raus bitte, ich hasse Videospiele!“

Und da war es wieder. Das Kribbeln in seinem Körper, die strahlende Helle und endlich, die dunkle und stickige Atmosphäre seines Zimmers. Auf dem Bildschirm flimmerte die Schrift Neuer Highscore auf, doch anstatt sich darüber zu freuen, riss Moritz den Stecker aus der Dose und rannte in den Garten. Auf dem Weg dahin griff er sich einen Ball und rief Emilia zu sich. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er wirklich große Lust draußen mit seiner Schwester Fußball zu spielen!

ENDE