Endlich!

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Angela (52)

Im Obduktionsbericht vom 21.12.2012 heißt es: Herzstillstand, wahrscheinlich Tod durch Erschöpfung.

Rückblick – Januar
Ein letzter Blick in den Spiegel – ihr blickt eine attraktive Frau entgegen, die ihre Vorzüge zu betonen weiß. Man sieht ihr die 50+ wirklich nicht an. Die Maske sitzt…

Sie macht sich auf den Weg in die Schule, für interessierte Eltern und Kollegen wird sie gleich einen Vortrag zum Thema Computersucht halten. Der Direktor war mit der Bitte, über dieses Thema zu referieren, wieder mal an sie herangetreten. Sie hatte sich gut vorbereitet, im Internet gründlich recherchiert und viel erfahren über den Cyberspace, Hacker und Nerds, soziale Netzwerke und Online-Rollenspiele.

Der Computer war auch ihr ein liebgewordenes Arbeitsgerät geworden, inzwischen fast unentbehrlich für die Unterrichtsvorbereitung. Und er beherbergte auch ihre stetig wachsende Fotosammlung. Sie pflegte zahlreiche E-Mail-Freundschaften, machte inzwischen ihre Bankgeschäfte online und hatte nach Amazon diverse interessante Shopping-Portale für sich entdeckt. Da konnte schon mal das eine oder andere Stündchen vergehen, das sie am Rechner verbrachte. Aber Computersucht?

Sie kannte und fürchtete die Sucht. Sie hatte ihren Mann an sie verloren. Er war arbeitslos geworden  und das, was bis dato gemeinsamer Genuss gewesen war, wurde bei ihm zur Sucht. Er trank immer mehr und veränderte sich völlig. Zunächst depressiv und voller Selbstmitleid, wurde er zunehmend aggressiv und verletzend. Sie hatte eine Entscheidung gewollt und er hatte sich für die Flasche Wodka entschieden. Tief verletzt war sie aus dem Spiel ausgestiegen, hatte die Scheidung eingereicht und sich eine neue Wohnung gesucht. Es war eine anstrengende Zeit gewesen, aber von Freunden und Kollegen hatte sie viel Unterstützung erfahren. Mühsam hatte sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Was blieb, war die Einsamkeit.

Der Abend war gut gelaufen, ihr Vortrag war angekommen. Sie war beliebt, bei ihren Schüler genauso wie den Kollegen. Sie war zuverlässig und hilfsbereit und meist gutgelaunt. Der Unterricht war nach all den Jahren ein Gutteil Routine und so hatte sie genügend Zeit für Hobbies, Sport, gute Freunde und Wellness. Aber obwohl ihr Leben gut verplant war, blieb manchmal noch ein bisschen Zeit über. Und ein Gefühl von Leere.

Bei ihrer Recherche war sie immer wieder über das Online-Spiel World Of Warcraft gestolpert, dem ein hoher Suchtfaktor zugeschrieben wurde. In den Osterferien wollte sie dieses Spiel einmal auspro-bieren, um sich ein eigenes Bild machen.

April
Am Montagmorgen installierte sie WOW und fand sich in einer farbenfrohen und aufregenden Welt wieder. Als es Mittag wurde, meldete sich ihr Magen und sie kochte sich Pasta. Am Nachmittag machte sie mit ihrer Freundin die geplante Fahrradtour, sie hatten sich wie immer viel zu erzählen.
Wie gewöhnlich schaltete sie auch in den nächsten Tagen regelmäßig ihren PC ein, checkte ihre Mails, beglich diverse Rechnungen, bestellte bei Amazon - und loggte sich bei WOW ein. Begeistert löste sie Rätsel, suchte nach Schätzen, kämpfte und wurde mit Gold und Ausrüstungsgegenständen belohnt. Manchmal war sie frustriert, wenn sie ihr selbstgestecktes Ziel nicht gleich erreichte. Aber wenn es dann doch gelang, war der Triumph umso größer. Da sie zielstrebig und diszipliniert vorging, hatte sie relativ schnell ein hohes Level erreicht. Ihre Nachtelfendruidin war schnell und stark und sie war aufgrund ihrer Fähigkeiten bei Dungeons eine beliebte Mitspielerin. Andere Spieler fragten sie um Rat und an ihrer Seite kämpften Helden und Abenteurer.

Oktober
Inzwischen war den Kollegen ihre Veränderung aufgefallen. Sie war schlagfertiger geworden und ließ sich auch nicht mehr von jedem für seine Zwecke einspannen. Dafür hatte sie jetzt keine Zeit mehr, sie hatte eigene Ziele. Schließlich wollte sie ja etwas erreichen!

Und dann diese ewigen gleichen Gespräche! Ihre Freundin langweilte sie mit ihren Problemen: die Kinder, der untreue Ehemann… Und auch die Kollegen nervten sie mit ihren immer gleichen Ge-schichten, Klagen, Intrigen. Ihre Schüler wurden immer frech und unaufmerksamer, aber sie tadelte diese Respektlosigkeit mit schlechten Noten. Und so ging das Tag für Tag. Sie sehnte das Unter-richtsende herbei, das Wochenende, die Ferien!

Irgendwie erschien ihr ihre frühere Gewohnheit, nach dem Unterricht bei jedem Wetter eine Runde zu joggen, nun zwanghaft. Wenn sie nach Hause kam, machte sie sofort den Rechner an. Bestellte sich online eine Pizza und eine Flasche Cola und - trat ein. Endlich! Sie liebte diese fantastische Welt, die wirkte, als hätte man den Geschichten von Jules Vernes einen modernen technischen Anstrich ver-liehen. Und sie war in eine der angesehenen Gilden aufgenommen worden! Sie war bereit gewesen, viel dafür zu tun. Sie hatte eine Bewerbung eingereicht und ein Vorstellungsgespräch geführt. Bei ihrem Alter hatte sie etwas geschummelt, denn die meisten ihrer Mitspieler waren jünger. Aber sie hatte eine junge Stimme, kannte, nicht zuletzt durch ihre Schüler, die Ingame-Sprache und niemand hatte Verdacht geschöpft, als sie ihr Alter mit Ende 20 angegeben hatte. Schließlich hatte sie den Vertrag unterschreiben dürfen. Gerne verpflichtete sie sich dazu, täglich mehrere Stunden zu spielen und wenn Raids angesagt waren, zur Verfügung zu stehen.

Häufig spielte sie bis tief in die Nacht und war morgens zu müde, ihren Unterricht zu halten. Nun, da blieb sie halt Zuhause, schlief sich aus. Sie hatte sich bisher nie erlaubt krankzufeiern, sie hatte was gut! Wie oft hatte sie ihre Kollegen vertreten!

Dezember
Endlich war wieder Wochenende und ein Raid stand an. Noch war sie allein unterwegs. Sie musste noch dringend ihre Stärkungstränke und Zauber auffüllen, damit sie stark genug war. Einer für alle – alle für einen. Sie wollte ihre Waffenbrüder nicht reinreißen. Sie war so weit gekommen und das als Frau.

Ihre Gilde kämpfte nun schon seit Stunden. Stunden, in denen sie kaum etwas aß oder trank, weil die Aufregung und Anspannung sie keinen Bissen herunterbringen ließen. Stattdessen hatte sie ange-fangen, in den Kampfpausen zu rauchen. Sie war so müde!

Sie hatten schon viele Bosse besiegt und waren reich belohnt worden mit wertvollen Ausrüstungsge-genständen und einem hohen Level an Kampf- und Heilkraft.

Obwohl die Raids immer anstrengend waren, war es heute besonders arg: ihr war übel und sie hatte merkwürdige Bauchschmerzen. Das Atmen fiel ihr schwer, als säße dieser riesige Troll direkt auf ihrer Brust. Aber Aufgeben kam nicht in Frage, das war sie sich selbst und ihren Mitspielern schuldig. Reiß dich zusammen! Es ist fast geschafft, nur noch dieser Kampf! Endlich – gesiegt! Sie ringt nach Atem, alles wird dunkel.

Autorin / Autor: Angela