Regen

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von imber, 15 Jahre

Als ich wieder zu mir kam, wusste ich im ersten Moment nicht was passiert war oder wo ich war. Ich wusste nur, dass die Leere verschwunden war. Die Leere die sich in meine Brust gefressen hatte, die sich in mich gefressen hatte, die ich geworden war. Ich wusste, dass ich es verlassen hatte, das Paradies, meinen Traum, die Illusion die man mir durch Maschinen eingepflanzt hatte. Und doch war es anders als erwartet.
Es war alles schwarz. Pechschwarze Nacht. Bleierne Schwere, eiserne Stille. Ich konnte fühlen, fühlte jeden einzelnen Muskel meines Körpers, fühlte das seltsame Kribbeln in meinen Fingerspitzen, fühlte das Schlagen meines Herzens, das in meiner Brust hämmerte nur um dann wieder langsam und träge zu werden. Die Welt um mich herum wurde nun wirklich zu einem Etwas. Und dann öfnnete ich die Augen.

Als ich sehen konnte, nicht nur Schemen und Umrisse, sondern Farben die so intensiv waren wie ich es noch nie erlebt hatte, Farben die mir Schauer über den Rücken jagten, die mir Wärme oder Kälte einhauchte nur mit ihrem Anblick, wünschte ich mir fast ich könnte es nicht. Es war überwältigend einfach nur zu sehen, aber was ich sah, ließ mich leer und voller Enttäuschung zurück. Grau, grau in grau, erfüllte mein Blickfeld, kalte Backsteinwände um mich herum, deren Tapete abgeblättert war, uralt verwittert und vergessen. Ihre Überreste lagen als feiner Staub am Boden oder kämpften als zerissene Fetzen gegen ihren Zerfall an. Ich schloss die Augen wieder, konnte die Enttäuschung schon spüren, die sich in mir breit machte, ich konnte ihren bitteren Geschmack auf der Zunge fühlen, ihr stechendes Prickeln, das durch meinen Körper schoss. Irgendwie, verzweifelt, hoffte ich, dass alles anders war wenn ich die Augen erneut öffnen würde, betete innerlich dass es anders sein würde. Es war nicht anders. Das Grau war noch intensiver als zuvor, noch vollkommener alt und hässlich, trostlos. Ich konnte eine Tür erkennen, aus Eisen mit einem Knauf, der von Rost zerfressen war, große Fenster durch die kaum noch Licht fiel, so schmutzig waren sie, so viel Staub und Dreck klebte an ihnen, verdunkelte den Horizont, raubte mir auch das letzte bisschen Hoffnung, das diesen Raum hätte erfüllen können. Ich wollte den Kopf drehen, aufstehen, wollte den ganzen Raum sehen, oder das was von ihm übrig war, wollte mich vergewissern, dass das hier echt war, dass die Trümmer meiner Erwartungen echt waren.

Ich versuchte meine Hand zu bewegen, meine Beine, aufzustehen, Schritte nach vorne zu stolpern und zu warten bis der Schock über mir zusammenschlug und mich zu Boden riss. Dann würde mich zumindest das Fallen von dem anderen Schmerz ablenken. Ich spürte meine Muskeln, konnte sie schreien hören unter der plötzlichen Belastung, den ungewohnten Bewegungen, aber ich schaffte es, glaube es zumindest, aber trotz all meiner Kraft, der Angst und der Panik, funktionierte es nicht. Ich konnte das Metall spüren das mich zurück zwang, kühl und fest um meine Beine lag und mich fesselte. Angst vermischte sich mit Ungewissheit, mit brennender Neugier. Ich war gefesselt - warum? Mein Blick war weiter starr gradeaus gerichtet, meine Augen waren den Anblick der unerbittlich grauen Wand leid und schließlich gelang es mir doch meinen Kopf nach unten zu knicken. Die Bewegung fühlte sich an wie die einer Puppe oder Marionetten, deren Fäden durchgeschnitten worden waren, abrupt und schmerzhaft. Ich sah meine Füße, Haut die weiß war, so weiß wie Schnee, blass, sich über meine Knochen spannte und grünlich wurde, wo die Adern durch die Haut hindurchschimmerten. Es sah krank aus, wie Papier oder etwas künstliches, das sich über Knochen spannte, die spitz und kantig hervortraten. Meine Beine waren dünn wie die eines Verhungerten, das Eisengestell, dass meine Füße umschloss wie eine zweite Haut, schien beinahe schon ein Teil von mir geworden zu sein. Ein Teil von mir der mich an das hier fesselte, an die Chance aufs Paradies.

Ich hatte dem damals zugestimmt. Technik würde uns retten, Technik würde uns zurück ins Paradies bringen. Technik würde alle gleich machen, egal wer und wo man war, ob man behindert war oder nicht. Dieses Programm ließ einen per Programmierung das Paradies erleben. Wir alle hatten es gewollt. Wir alle hatten unser Leben den Maschinen geschenkt, uns an sie gefesselt und die Schlüssel fortgeworfen. Wir hatten niemals einen Weg zurück geplant, zurück in die Trümmer unserer Existenz, zurück in die Realität aus der wir geflohen waren. Das war Technik für uns geworden, eine Flucht aus der Realität, unbegrenzte Möglichkeiten, alles, nur nicht Realität. Der Anblick von mir ließ mich zurückschrecken, angewidert von mir selbst, von dem was ich sein sollte, verhungert, kahl, krank. Ich war jung, sportlich, ich war perfekt. Gewesen. Dort, dort wo alles perfekt zu sein hatte. Und den Preis hatte mein Körper gezahlt, hatte ich gezahlt weil ich immerzu diese Leere gespürt hatte, Leere, die mich wahnsinnig gemacht hatte, die das erste richtige Gefühl in mir geweckt hatte. Sehnsucht. Sehnsucht danach Regen zu sehen, Tränen zu schmecken, ich zu sein. Sehnsucht die mich dazu gebracht hat, das Unmögliche zu tun. Zu fliehen, zurück in die Realität. Ich wollte mich befreien von der Maschine, die mein Leben für mich gesteuert hatte, meine Hand hob sich um die Fesseln zu lösen, immernoch war jede Bewegung schwer und unglaubliche Last versuchte vergebens meine Hand wieder nach unten zu drücken, ich konnte hören, wie Schläuche von meiner Haut rissen, könnte spüren wie dieser Teil von mir sich löste, wie Kabel zischend zu Boden fielen, Injektionen aus meinem Fleisch glitten, während ich einfach nur meine Hand nach oben riss, weil ich wissen wollte, wer ich war. Wie ich aussah. Wie ich mich anfühlte, ob meine Haut wirklich so trocken und rau war wie sie aussah, ob sie sich tatsächlich wie zerknittertes Papier anfühlte. Meine Fingerspitzen waren klamm und prickelten, mein Blut raste durch meine Adern, dumpfer Schmerz pochte an den Stellen, an denen sich Nadeln in mein Fleisch gebohrt hatten, um mich künstlich zu ernähren doch jetzt lagen die Schläuche und Kabel am Boden wie tote Parasiten, wie eine Schlange, die sich nun nicht mehr wanden und ihr Gift versprühten.

Es fühlte sich gut an. Als meine Finger auf Haut trafen, wollte ich zurückschrecken, wollte nicht die Oberfläche spüren rau wie Schmirgelpapier, alt, fast schon tot. Ich hoffte immer noch verzweifelt, dass das nicht echt war, nicht ich. Ich war nicht so. Ich wollte nicht so sein. Und doch war ich es. Ich wusste ohne einen Spiegel, wie ich aussehen musste, könnte die eingefallenen Augenhöhlen, die unangenehm hervortretenden Wangenknochen sehen, das blasse, ausgemergelte Gesicht, das aus glasigen Augen in die Welt hinausstarrte, Augen die tot gewesen waren und jetzt nicht begreifen konnten, was das für eine Welt war und doch irgendwie wussten, dass es die Welt war ,die sie immer hatten sehen wollen. Mein Zuhause. Mir entfuhr ein Laut, halb Wimmern halb Lachen. Meine Hände zerrten an den Verschlüssen, die mich an den Stuhl fesselten, Freiheit durchströmte mich, als sie endlich aufsprangen. Ich hievte mich hoch, brach unter meinem eigenen dürren Körper fast zusammen, taumelte ein paar Schritte in den Raum, fiel halb gegen die Wand, die genauso kalt war wie sie aussah und stand einfach nur keuchend da.

Der Raum der sich vor mir erstreckte, endlos und endlos, war gigantisch und dunkel. Und voller Menschen, voller blasser Menschen, die wie tot in ihren Stühlen saßen, von Schläuchen und Kabeln durchbohrt, Saugnäpfe auf dem kahlen Kopf, mit Computern verbunden, die sie ins Paradies brachten. Die inzwischen schon ein Teil von ihnen geworden waren, wie die Schläuche durch die eine stechend grüne Flüssigkeit blubberte und die Kabel, die in ihren Körpern verschwanden. Entsetzen übermannte mich, blankes, reines Entsetzen, und ich vergaß für meinen Moment alles andere, einfach alles. Das waren keine Menschen mir vor mir, die aufgereiht, Reihe um Reihe, träumend da saßen, Maschinen gleich voller Kabel, Computer ohne die sie nicht leben konnten. Das war kein Leben. Das waren keine Menschen. Ich starre die blubbernde Flüssigkeit an, die beständig durch die Schläuche schwabte und fühlte, wie mir schlecht würde, der Anblick ließ mich würgen, zwang mich den Blick abzuwenden von dem, was Technik aus uns gemacht hatte, was wir selbst aus uns gemacht hatten. Ich stürzte zum Fenster, spürte wie der Boden unter mir kippte und bemerkte dann, dass ich es selbst war. Der Boden traf mich hart, härter als jemals zuvor, schickte Schmerz durch meinen ganzen Körper und fast schon unwirkliche Glückseligkeit. Ich hatte schon immer einmal fallen wollen. Um wieder aufstehen zu können. Meine Hände lagen an dem Glas, ich konnte die Kälte fühlen, die durch es hereindrang, den Schmutz und Staub der seit etlichen Jahren gegen die Scheibe drückte. Ich wischte wie besessen, versuchte das Fenster von seiner Last zu befreien, wollte nur noch sehen, was draußen war. Ob ich wieder enttäuscht werden würde, ob diese Geschöpfe in den Stühlen wirklich einen Grund gehabt hatten, zu flüchten vor sich selbst und vor ihrer Welt. Oder ob sie es getan hat, weil die Technik zu verlockend wurde, eine zu große Versuchung, sich der Welt zu entsagen, eins zu werden mit dem besten Freund und Helfer des Menschen, mit der Persönlichkeit des Menschen, errechnet durch Maschinen, mit allem, was man tat und produziert mit Hilfe von individuellen Computern.

Das Loch das ich freischaffte war gerade groß genug. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust, ich konnte jede einzelne Sehne überdeutlich fühlen, so angepannt war ich. Das hier war eine Entscheidung, ein Urteil. Ich wollte wissen, ob es sich gelohnt hatte, die echte Welt aufzugeben mit all ihren Gefühlen und Sinneseindrücken, nur um auf ewig im Paradies, einer Computersimulation, einer bloßen Zahlenfolge leben zu können. Draußen raubte mir den Atem, stahl mir den Herzschlag und brachte mir all das, was sich Staunen nahte, großes, kinderhaftes Staunen. Ich riss meine Augen weit auf, weit und immer weiter um mehr sehen zu können. Vor mir erstreckte sich eine Straße, deren Asphalt schon leicht abgeblättert war, Büsche und Gras eroberten sich die Welt zurück und durchbrachen den Beton, wo immer sie konnten. Wilde Wiesen lagen hinter der Straße, Bäume deren Blätter von Regen trieften. Regen. Noch nie hatte ich etwas schöneres gesehen, etwas anmutigeres, etwas echteres. Der Himmel selbst sah aus wie ein Sturm, dunkle Wolken türmten sich auf zu Gebilden, wie sie nur meine Fantasie gekannt hatte, so majestätisch dass ich mich verneigen wollte vor Ehrfurcht, zarte Sonnenstrahlen durchbrachen die Wolkendecke, warfen goldenes Licht auf die großen, schweren Regentropfen, die hinabfielen wie funkelnde Kristalle in allen Farben des Regenbogens, wie Tränen des Himmels, wie wunderschöne Tränen der Glücksseligkeit. Es war so schön, dass ich weinen wollte. In dem Moment, in dem ich den Regen sah, wusste ich, wie er sich anfühlen würde. Weder warm noch kalt, angenehm wie eine Umarmung, wie ein Freund, den man seit langer Zeit wieder sah, erfrischend und doch willkommen, aufgewärmt durch die Sonne, eine perfekte Mischung wie ein Regenbogen.

Ich rappelte mich auf, ignorierte den Schmerz und die Müdigkeit, ignorierte einfach alles außer dem Staunen, der Faszination. Ich wusste nicht, wohin ich ging oder wie ich gehen musste, ich wusste nur dass ich nach draußen wollte, dass ich den Regen fühlen wollte, dass ich ihn wie einen alten Freund willkommen heißen wollte. Ich riss die Tür auf, obwohl meine Muskeln schrien und stürzte einfach nur auf die Treppe zu, fragte mich nicht, wie ich es hinunter schaffen sollte mit einem Körper, der schon beim Laufen beinahe fiel. Die Stufen waren hoch und steil, ich krallte mich instinktiv am Geländer fest, um nicht zu fallen, während ich die Treppen hinunterstolperte, bei jedem einzelnen Schritt einknickte, ab und zu auch fiel, nur um wieder aufzustehen. Meine Lungen brannten wie Feuer, jeder einzelne Atemzug sandte Schmerz und Brennen durch meinen ganzen Körper, die Welt verschwamm vor meinen Augen und die Luft schien ihren Weg nicht mehr in meine Lungen zu finden. Doch ich erlaubte es mir nicht zu stoppen. Nicht hier, nicht jetzt. Ich rannte weiter, rannte und fiel und rannte, ich wusste nicht wie lange, ich wusste nur, dass irgendwann keine Treppen mehr da waren, sondern nur noch eine Tür. Eine gigantische Tür, deren Gravur längst von der Zeit zerfressen war und die das einzige Hindernis war, das ich noch zu überwältigen hatte. Meine Hände umklammerten die Klinke, sie war eisig kalt und brannte unangenehm in meiner Handfläche, drückte sie herunter, stemmte meinen dürren Körper gegen den Stahl, hörte das Knirschen meiner eigenen Knochen und der Tür. Ich fragte mich, seit wie vielen Jahren sie hier als stummer Wächter stand, als Zeuge, die Außenwelt kommen und gehen sah und die Stille der Innnenwelt spürte, der Welt ohne echtes Leben. Der Maschinenwelt.

Gerade als ich glaubte, dass ich zerreißen musste, dass meine Hände verbrannten von der Kälte der Türklinke und ich erstickte von meiner Anstrengung, gab die Tür einen Laut von sich, der mir durch Mark und Bein ging, der mich im Innersten berührte. Es klang wie ein Stöhnen und Schreien, wie Versagen und Hoffung zugleich. Als die Tür aufglitt, schlug mir Wind entgegen, der über meinen Körper strich, verspielt und ungestüm, der an dem Laken zerrte, das ich als Kleidung trug. Der Wind brachte Geruch mit sich, den Geruch von Regen. Einen Geruch, den ich nicht beschreiben konnte, so intensiv war er, es war der Geruch von Bäumen und nassem Moos, der Geruch von Himmel und von Heimat. Ich stand einfach da, in der Tür, direkt auf der Schwelle, starrte hinaus in die von Sturm erfüllte Welt. Ich starrte hinaus, sah die unglaubliche Schönheit, spürte die raue wundervolle Kälte und roch den Regen. Ich stand da und traute mich irgendwie nicht, den ersten Schritt zu machen, während mein Körper zitterte wie die Büsche und Sträucher im Wind und wie die Blätter der Bäume tanzten. Ich sah mir all das an und konnte den Schmerz in mir fühlen, den Schmerz und das Staunen. Dann kamen die Tränen. Meine Augen brannten während alles andere irgendwie kalt war, mein Körper zitterte, mein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse aus Schmerz und Verzückung, einer stillen Freude und tiefem Schmerz, und Tränen liefen über mein Gesicht. Warm. Sie fühlten sich warm an. Ich konnte spüren wie die Tropfen meine Wange hinunterrannen, zu Boden fielen oder in meinen Mundwinkeln hängenblieben, mich Salz schmecken ließen. Jetzt war ich wie der Regen. Ich war frei und echt. Ich konnte fühlen und ich konnte tanzen wie die Blätter im Wind. Ich zögerte noch einen Moment, dachte an die Menschen, die mehr Maschinen glichen mit ihren Computern und leeren Augen, mit ihrer Haut, die niemals Sonne gesehen hatte und niemals Regen gespürt, an die Menschen, die niemals etwas gefühlt hatten, niemals gelebt. Dann zögerte ich nicht mehr, dachte nicht mehr nach. Ich rannte, rannte hinaus in den Regen und lachte und weinte und schrie mein Glück hinaus in die Welt.