Cyber-Love

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Ulrike, 56 Jahre

European Alliance im Jahre 2463 n. Chr.
Arik, vierunddreißigjähriger Bürger des europäischen Staatenbundes bewegte sich in Richtung Tür, als ihn die mit großer Dringlichkeit angekündigte Nachricht des administriellen Servers erreichte.
Verfluchter Kontrollapparat, stöhnte er, als er mit einem gesprochenen Befehl sein Handy einschaltete.
„Löschung der anvisierten Zielperson“, lautete die Überschrift.
Löschen, löschen, löschen…wie ein Echo blinkte in seinen Augen das rote Licht der Nachricht wieder und wieder.

Vanda, seine langjährige, virtuelle Partnerin, erwartete ihn schon an der Tür des gemeinsamen Chatrooms. Bei ihrem Anblick klopfte Arik das Herz hart gegen die Rippen.
Sie lächelte ihn an und zog ihn an den Handgelenken ein paar Schritte nach innen. Langsam und ohne ihn aus den Augen zu lassen, ließ sie ihre Fingerspitzen an seinen bloßen Armen nach oben wandern. Ariks Antennen waren alles andere als auf Streicheleinheiten ausgerichtet, doch ironischerweise konnte er jedes einzelne Härchen spüren, welches sich voller Wohlbehagen und Vorfreude aufrichtete.
Hastig atmete er ein und zog sich aus der intimen Berührung zurück.
Vanda schaute ihn misstrauisch von der Seite an. „Arik“, fragte sie, „was ist los?“
Er drehte ihr den Rücken zu.
„Arik“, sagte sie scharf, und bewegte seinen Körper wieder zurück, „was gibt es?“
„Du stehst auf ihrer Liste“, sagte er leise und riskierte es, ihr dabei in die Augen zu sehen. „Sie werden dich bald eliminieren.“
Vanda trat einen Schritt zurück. Ihre sonst so ruhigen Gesichtszüge waren verzerrt, zu seiner großen Überraschung nickte sie wissend. „Es stimmt also“, sagte sie, wie zu sich selbst.
„Vanda“,  begann er mit beschwörender Stimme, „die Lage ist…“, doch da schnitt sie ihm schon brüsk das Wort ab.
„Nein Arik, jetzt musst du mir zuhören.“ Sie atmete tief ein, wie um sich zu sammeln. „In der letzten Zeit verdichteten sich die Hinweise, so dass ich einige Vorkehrungen zu meinem Schutz getroffen habe.
„Was soll das bedeuten?“
„Ich habe deine Virenkombination in meinen Besitz gebracht.“
Seine Augen weiteten sich. „Was hast du?“
Für einen Moment brach trotz aller Dramatik, die in der Luft hing, ein prustendes, verzweifeltes Lachen aus ihr heraus, dann fing sie sich wieder.
„Ich trage jetzt deinen ganz eigenen Fingerabdruck in mir. Somit kann ich mich vor dem Administrator identifizieren.“ Sie machte eine kleine Pause. „Jetzt ist es soweit, ich kann hier raus, Arik, endlich öffnen sich auch für mich die Türen in die Freiheit.“
Arik war am Ende seiner Kräfte, die Beine drohten ihm zu versagen. Langsam ging er in die Hocke und ließ sich auf dem Boden nieder. Beschämt musste er sich eingestehen, dass er die Gefühle seiner Partnerin nicht einmal erahnt hätte.
„Wie hast du es geschafft?“, fragte er nach einigen tiefen Atemzügen, „die Administration erwischt doch fast jeden, der es versucht und löscht ohne Rechtfertigungsprozess das Leben der Personen auf der Stelle aus.“
Sie nickte und strich sich mit ihren Händen an den Armen auf und ab. „Mich haben sie eben nicht gekriegt“, sagte sie, „ich hatte einfach Riesenglück.“
„Was hast du jetzt vor?“
Vanda ließ sich nun ebenfalls auf dem Boden nieder. „Ich werde mich in den illegalen Schlupflöchern des Netzes aufhalten müssen“, meinte sie beklommen, „vielleicht finde ich nach einiger Zeit Anschluss an die Cyberpirates. Und irgendwann ja, da werden sie auch mich schnappen.“ Ihr Blick schweifte ab, doch einen Augenblick später warf sie den Kopf herum und funkelte ihn wild und entschlossen an. „Aber bis dahin, Arik, will ich noch jede Menge Leben tanken.“
Arik sah sie verwirrt an. Seine sanfte Freundin hatte sich in kürzester Zeit und für ihn vollkommen unerwartet, zu einer kriegerischen Amazone entpuppt.
Umständlich rappelte Vanda sich auf die Beine. „Sie werden dir glauben, dass du mit der Sache nichts zu tun hast, Arik. Wenn du den Betrug gemeldet hast, wirst du unbeschadet aus dem Schlamassel wieder herauskommen.“
Von unten hielt er ihr seine rechte Hand entgegen.
Sie ergriff sie und zog ihn hoch. „Ich gehe jetzt“, sagte sie und dabei sah sie ihn intensiv an. Wie suchende Scheinwerfer tasteten sich ihre Augen über sein Gesicht.
„Alles Glück für dich, Arik.“ Ihre letzten Worte waren mehr gehaucht als gesprochen. Sie drehte sich um und eilte zur Tür.
Ariks Gedanken wirbelten in einem chaotischen Strudel durcheinander. Dieser winzige Augenblick und Vandas bebender Rücken an der Tür lähmten seinen Willen und ließen ihn mit hängenden Armen im Zimmer stehend zurück. Erst als Vanda ihre Hand erhob und auf den Controller legte, brachte ihn das leise Zischen des zur Seite gleitenden Türblattes wieder zur Besinnung. Seine erschlafften Muskeln kamen in Bewegung. „Vanda“, schrie er, aber ihre Gestalt war schon in der Schwärze verschwunden. Ihm kam es so vor, als ob die Tür ihn beim Zurückschweben spöttisch angrinste.
Tränen schossen ihm in die Augen und Panik breitete sich in seinem Brustkorb aus, wie einströmendes Wasser in den Flutkammern eines U-Bootes. Beinahe hätte er die Arme vor die Augen gelegt und sich hemmungslos seinen Gefühlen überlassen, als er mitten in der Bewegung innehielt. Mit zitternden Lippen gab er seinem Handy den Einschaltbefehl.
„Vanda“, begann er und dabei legte er schon seine Hand auf den Öffner, „ich habe es dir nie gesagt, aber ich liebe dich.“ Auf der Schwelle stehend atmete er tief ein. „Freiheit und Leben tanken, dass will ich auch. Und wenn du glaubst, dass ich dich diesem Piratenvolk alleine überlasse, dann hast du dich in mir ordentlich getäuscht.“
Er traute seinen Ohren kaum, aber aus den Tiefen des Raumes waren tatsächlich Geräusche zu hören, die schnell näher kamen und ihm eine noch ganz andere, köstlichere Dimension von Herzklopfen bereiteten.