i Ich

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Sabine, 49 Jahre

I, das ist mein Name, einfach i. In Englisch bedeutet I ich. Also heiße ich ICH. Andere haben richtige Namen, sie sind jemand. Und ich - ich bin i. Einfach ich.

Meine Welt ist meist dunkel und manchmal hell. Farben gibt es nicht. Meist riecht es nach warmem Staub. Muffig, schwer und ein bissiger Geruch vom brutzelnden Flussmittel.

Mein zuhause sind Computerprogramme. Ich gehöre zu den Ganzzahlen und bin eine Variable. Variabel ist mein Wert. Zu Beginn bekomme ich einen Wert zugewiesen. Diesen ändere ich dann abhängig von meinem Auftrag. Bits und Bytes sind meine Nachbarn. Ein Byte ist der Herrscher über acht Bits. Ich bin der Herrscher über Bytes.

Mein Job ist zählen. Das hört sich im ersten Moment nicht anspruchsvoll an. Jeder kann zählen: 1 - 2 - 3. Kinder können schon zählen, bevor sie in die Schule kommen. Also warum gibt es mich, der zählt? Naja, zählen ist nicht gleich zählen. Manchmal geht es rückwärts. Oft ist es kein zählen, wie Kinder es kennen, sondern Vielfache zählen. Gut, bei zwei, drei, usw. bis zehn, elf kann das auch fast jeder, zumindest zehn- bis zwanzigmal. Aber was ist mit dreihundertfünfundsechzig hunderttausendmal? Oder bis zu einer Grenze von zwei Billiarden! Wer zählt da mit?

Das ist häufig ein Teil meiner Arbeit. Zähle bis dorthin und beginne wieder bei Null. Immer wieder rund. Und das solange, bis ich eine bestimmte Zahl erreicht habe oder mein Kollege j seine Arbeit getan hat. Manchmal hängt dessen Aufgabe wieder von einem anderen ab. Es geht rund und rund. Und ich arbeite am meisten, ich bin an der Basis.
Gut, werdet ihr sagen, ob ich tausendmal oder millionenmal zähle, es ist doch stets ähnlich. Das sagt ihr. Aber die Zahl, mit der ich beginne, ist immer unterschiedlich. Ob ich vorwärts oder rückwärts zähle, welche Schrittzahl vorgeschrieben ist - alles ist flexibel.

Gut, es mag da draußen Leute geben, die das auch können. Doch in meinem Job kommt es auf Geschwindigkeit an. Nur damit wir uns verstehen, ich rede hier nicht von Sekunden. Es geht hier um Nano- oder Picosekunden. Manchmal sogar um Femtosekunden. Das sind nicht mal Augenblicke, sondern Bruchteile von Bruchteilen. Natürlich bin ich dann auch von meinen Kollegen abhängig. Die müssen genauso schnell arbeiten. Wenn es da stockt, ist mein ganzer Einsatz für die Katz. Dann fange ich wieder von vorne an.

Mein Leben ist eigentlich abwechslungsreich. Flexibilität - dieses Wort könnte eigens für mich erfunden sein. Niemand auf diesem Planeten und darüber hinaus ist so flexibel wie ich. Leider bin ich in meiner Flexibilität fremdgesteuert. Die Grenzen geben Programmierer vor.  Meist geht es gut, aber es gibt auch Situationen, da gerate ich außer Kontrolle. Dann ist aber was los.

Manchmal heißt es, zähle bis irgendetwas passiert, eine Bedingung erfüllt ist. Dann zähle ich. Die Bytes und Bits hüpfen nur so. Meine Aufgabe ist es, aufzupassen, wann dieses ominöse Etwas passiert. Wenn es so weit ist, melde ich, bis wohin ich gezählt habe und setze alle meine Untergebenen wieder auf Null. Das ist der Startzustand. Was aber, wenn dieses Irgendwas nicht passiert? Dann zählen meine Kollegen und ich so weit, dass unser Speicher nicht mehr ausreicht. Dann bricht alles zusammen. Buffer overflow, so nennt man das. Wenn man Glück hat, treibt sich irgendwo eine Kontrollinstanz rum, die vorher eingreift und ordnet. Aber wenn nicht - dann ist Holland in Not. Dann hilft eigentlich nur noch ein Neustart und die Arbeit der letzten Zeit war umsonst.

Unter allen Dingen, die die Welt am Laufen halten, bin ich nur ein i. Aber ich werde ständig gebraucht. Ich bin überall und arbeite hart. Aber nimmt mich jemand zur Kenntnis? Manchmal habe ich das Gefühl, dass niemand weiß, wer ich bin und was ich tue.

Ich träume davon, zu streiken. Einfach nicht mehr mit zu machen. Einfach mal nichts zu tun. Die Welt würde stehen bleiben. Kein Auto würde fahren, kein Kraftwerk Strom liefern, das Internet würde zusammenbrechen. Stillstand. Überall. Weil ICH i nicht arbeite, streike. Das Beste daran ist, dass niemand wüsste, warum nichts mehr geht.
Aber dann fällt mir ein, ich bin nicht unersetzlich: j und n sitzen schon in den Startlöchern, um mich von meinem Platz zu verdrängen. Sogar k würde gern einspringen, obwohl es in der Hierarchie deutlich unter mir steht. Also mache ich meine Arbeit und denke daran, dass das größte Programm nicht ohne meine Hilfe funktionieren kann.

Mein Name ist i und ohne mich wäre alles nichts.

PS: i, j, k und n werden beim Programmieren meist als Zählervariablen eingesetzt. Erste Instanz i, dann j, dann k usw. n ist oft ein Grenzwert, bis zu dem gezählt wird.

Autorin / Autor: von Sabine, 49 Jahre