Diagnose via Internet

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Nicole (35)

Liebes Tagebuch,

muss ich sterben?

Ich schreibe das Jahr 2014. Im Angesicht der Tatsache, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann, ist heute ein wunderschöner, frühherbstlicher Sonnentag. Als die Nacht sich legte und ein neuer Tag in den Startlöchern stand, lag Nebel über den weiten Feldern meines Auges. Der Nebel, der ankündigt: "Heute entscheide ich mich für einen traumhaft sonnigen Tag....ich bin zwar noch dicht und schwer....aber bald verfliege ich in den ersten Strahlen der warmen Sonnenluft."
Ein neuer Tag erfüllt von Kaffeedurst und Lebensgier. Genauso sollte mein heutiger Tag werden. Genauso und nicht anders.
Und jetzt? Keine Spur mehr von Kaffeedurst und Lebensgier.
Alles wie ausradiert.
Ich würde mich gern eingraben, ganz tief, abgeschirmt von allem was mich lähmt und mir Angst macht. Versuche erstmal meine Gedanken zu sammeln....

Liebes Tagebuch, immer noch der 04. September

ich habe mich ein wenig fangen können und werde erstmal versuchen, Dir zu erzählen, warum ich dieses Bedürfniss verspüre, dieses Tagebuch zu füllen und zudem auch gerne erklären, warum ich jetzt gerade so bin wie ich bin...

ich wachte auf..in der vorletzten Nacht. Aus einem traumlosen Schlaft weckte mich ein ungewohntes jedoch sehr merkwürdiges Klopfen. Es war nicht das Klopfen, welches man macht, wenn man vor einer geschlossenen Tür steht und auch nicht das Klopfen, das man zwangsläufig von allein auf der Tischplatte macht, wenn man das Gefühl hat, sein E-Mail Postfach würde sich erst dann öffnen, wenn man ruft: "Sesam öffne Dich"...zack zack!! Nein, dass war es nicht. Es kam von Innen. Aus meinem "Innen". Mein Herz. Mein Motor. Mein Motor kam aus dem Takt. Er lief nicht sauber. Auf einen normalen Herzschlag folgte ein schneller, nicht regelmässiger Schlag. Und dann eine kurze Pause! Ein erneutes schnelles Klopfen jagte durch meinen Brustkorb. Diesmal eine etwas längere Pause als kurz zuvor! Was passierte da gerade mit mir? Dann übermannte mich ein Gefühl, von dem ich nicht im weitesten Sinne erahnen konnte, dass es soetwas gibt und dass es mich so fesseln und lähmen könnte. Angst! Und die gesündeste Abwehrreaktion eines Menschen bei Angst lautet: Flucht! Wohin???? Wohin sollte ich "flüchten"? Ich war allein in meiner kleinen 3 Zimmer Wohnung mitten in Köln. Warum musste ich ausgerechnet nach Köln ziehen? Um mir selbst zu beweisen, wie ach so selbstständig ich war? Ha...ich zeigs allen und ziehe in die große große weite Welt - nach Köln! Jämmerlich....und jetzt "flüchtete" ich ins Badezimmer und kauerte panisch hängend am Waschbecken und ließ mir eiskaltes Wasser über die Handgelenke laufen, und wünschte mir nichts sehnlicher, als aus diesem scheinbar nicht endenden Alptraum aufzuwachen. Ich zitterte am gesamten Körper. Ich merkte, wie mir durch meine schnelle Atmung schwindelig wurde. Auch das noch.....Wenn ich doch wenigistens jetzt nicht allein in dieser Wohnung wäre. Wann hörte das endlich auf? Und schon wieder rappelte es in meiner Brust. Sollte ich den Notarzt verständigen? Meine Güte, wie peinlich. Ich schloß einen kurzen Augenblick meine Augen, einen kleinen kurzen Moment nur. Die Panik durfte mich nicht steuern. Ich legte mich auf den kalten Fußboden und zwang mich, die Augen zu schließen. Da ich die Symptome einer Hyperventilation kannte (passiert mir ab und an, wenn mein Hausarzt mich auf der Lunge abhorcht....tief ein und ausatmen, und nocheinmal....tief ein und ausatmen), wusste ich, dass ich meine beiden Hände geschlossen vor dem Mund halten und ein paarmal ein und ausatmen musste, dann wird es nach kurzer Zeit wieder besser. Jedoch ist es in dieser heiklen Situation alles andere als einfach, die Kontrolle über sich und seinen Körper zu halten. Vor allem, wenn man das Gefühl hat, überhaupt keine Luft zu bekommen. "Nele, reiss Dich zusammen!" "Schön ein- und ausatmen!" Es zeigte Wirkung...der Schwindel legte sich. Ich war zwar noch wie betäubt von der Angst, welche mir das Herzklopfen bereitet hatte, aber es ging mir ein wenig besser. Keine Panik, keine schnelle Atmung mehr. Ich stand auf und wusch mir kaltes Wasser durch´s Gesicht und legte mich zurück in mein Bett. Ein neuer Tag war gerade im Anbruch, jedoch war er noch nicht jung genug, dass ich hätte aufstehen können. Das Geschehene ließ ich Revue passieren und ich merkte, wie das Gefühl der Angst erneut an meiner Zimmertür zu klopfen versuchte. Nein, ich durfte es um Gottes willen kein weiteres Mal hineinlassen. "Geschlossene Gesellschaft heute"!....hörst Du! "Betreten verboten"! Ich musste mich irgendwie ablenken. Sollte ich Mutti vielleicht anrufen? Ich weiß, sie hätte sich auch um diese Uhrzeit wahnsinnig über meinen Anruf gefreut, aber zugleich wäre sie, wenn ich ihr das Geschehene erzählt hätte, überstürzt und vor Sorge eilend, ins Auto und hier zu mir runter gerast. Nein, keine Lösung. Also nahm ich mein Handy und hatte die "allerbeste" Idee aller Zeiten. Ich googelte "das Geschehene"! So, und wem öffnete ich zugleich die Tür? Wen ließ ich mit breitem Grinsen im Gesicht hinein? Der Angst! "Guten Morgen", schön dich wieder bei mir zu haben". "Hatte dich schon sehr vermisst". "Käffchen"?
Wie gesagt, ich googelte und stellte erschreckender Weise fest, dass ich mich künftig gar nicht mehr persönlich bei meinem Arzt vorstellen brauchte..man fand alles hier im Netz. Symptome von A - Z, plus Diagnose. Warum sollte ich mir den Stress mit Wartezimmer und Co. noch antun?
Für jedes Wehwehchen gibt es einen entsprechenden Medziner, für jedes Leiden eine Diagnose und für jeden, der sehr mitteilungsbedürftig ist und vielleicht ein klein wenig zum Hypochonder tangiert, auch ein Chatforum. Ganz einfach, man schreibt über seine Symptome und anschließend schreiben dir Menschen mit ähnlichen oder gar gleichen Leiden zurück. Sie schreiben all ihre Geschichten hinein und geben sich gegenseitig Tipps.

Herzrasen, Herzstolpern, Atemnot, Schwindel....ja genau, all diese Symptome gab ich ins Netz ein und landete, wie bereits erwähnt, in diesem Chatforum. So, da war jemand, der sich "Herzkasperle" nannte, und ganz ähnlich wie ich, so ein "Klopfen" verspürte. Jedoch lebt er damit schon eine ganze Weile und hat mittlerweile eine Methode gefunden, sich selbst zu helfen. Sobald er die Aussetzer spürt, hält er die Luft an und zählt bis 10. Im Anschluss daran macht er sofort 15 Kniebeugen. Und "Tadaaaa"....alles wieder gut. Wooooow!!!!
Ich schaute weiter.

Herzklappenfehler, Herzmuskelentzündung....Und dann stand dieses eine Wort da...groß und breit "HERZINFARKT".
Ok, ich wusste es..ich hatte es geahnt. Ich sterbe. "Angst, ich habe schonmal dein Bett bezogen, ich habe das Gefühl, du möchtest länger bleiben". Panik lähmte meine Sinne und meinen gesamten Körper. Das Gefühl ist in Worten nicht zu erklären.
Liebes Tagebuch, mein Handy klingelt...
Bis gleich, schonmal Danke fürs Zuhören, Deine durchdrehende sowie sterbende Nele

Bin wieder da...
Die Instinkte einer Mutter sind einfach unglaublich. Bekommt man diese automatisch mit der Geburt des ersten eigenen Kindes??? Es kann gar nicht anders sein...sie muss meine Angst instinktiv gespürt haben. Und da sie mich ganze 24 Jahre in- sowie auswendig kennt, konnte sie an meinem Tonfall erkennen, dass es mir alles andere als gut geht. Noch besser, sie kommt. Genau in diesem Moment telefoniert sie mit meinem Arzt hier in Köln. Sie hat fürcherliche Panik, dass ich ernsthaft krank sein könnte. Zugegeben, ich teile ganz und gar ihre Sorge.
Auch wenn heute der 04. September ein traumhaft schöner Herbsttag ist, wäre ich froh, wenn er schon ein Ende hätte.

Allerliebstes Tagebuch,
es ist der 09. September 2014 und ich lebe noch. Und das werde ich auch weiter tun, und das hoffentlich noch viele viele Jahre. Zumindest war mein Arzt der Meinung. Diagnose: "Supraventrikuläre Extrasystolen"! Hört sich todkrank an, ist aber in meinem Fall kein Todesurteil. Für jemanden, der körperlich gesund ist und sonst kardiologisch (herzmäßig) gesund ist, eine "harmlose" Art von Herzryhtmusstörung. Und da ich vom Herzen her fit bin....(EKG -ohne Befund-) kein Grund zur Panik. Fast jeder Mensch in seinem Leben verspürt diese einmal. Es gibt die Sorte Mensch, die sie nicht mal wahrnehmen und dann gibt es die Sorte Mensch, wie ich dieser bin, der sie spürt. Achja, ich darf nicht vergessen, mir Lektüre und Infos zum Thema "Entspannungstechniken" zu besorgen. Falls es ein nächstes Mal geben sollte, möchte ich kein weiteres Mal panisch werden, nein, ich möchte vorbereitet sein. Ich werde weiterhin auf meinen Körper hören, aber eins ist sicher, keine Kniebeugen und auch keine "Arztbesuche" mehr im Internet!

Autorin / Autor: Nicole