Engelsfunken

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Elke Werner, 53 Jahre

Mein Kopf ist ein Aquarium ohne Fische, ganz trüb das Wasser und voller Algen. Ich habe nicht zum ersten Mal im Büro geschlafen, aber noch nie ist mir beim Aufwachen so übel gewesen. Ich hatte diesen Traum. Ich tauche und suche einen schwarzen Meeresgrund nach Annika ab. Der Sauerstoff geht zur Neige und ich kann sie nirgends finden. Ein Geschmack im Mund, als hätte ich mich erbrochen. Glassplitter im Magen. Ob Kaffee geht? Ich stehe langsam auf und wanke auf unsicheren Schritten zu dem Getränkeautomaten. Der Boden schlingert wie auf einem in Seenot geratenen Schiff. Ich sehe nach unten, sehe, dass ich auf Socken bin. Einer ist dunkelblau, einer grau. Samstagmorgen. So früh noch. Ich denke an Katharina. An zuhause. An das bläuliche Licht ihres Bildschirms, vor dem sie jede freie Minute verbringt. Ich stelle keine Fragen, sonst hätte ich längst mal gesagt: „Wem schreibst du da?“ und: „Gibt es einen anderen?“ Alles ist anders, da ist das gut möglich. Kathy. Ihr Rücken ragt wie eine unbezwingbare Felswand im Bett auf. Nach so langer Zeit, es ist ein Jahr, alles ist ein Jahr her, weiß ich nicht mehr, wie ich sie anfassen, womöglich an mich ziehen soll.
Sie ist so klein, dass ich ihren Scheitel küssen kann, wenn sie ihren Kopf an meine Schulter legt. Am Haaransatz riecht sie ganz zart nach Vanille. Überhaupt: ihr Geruch. Weiter unten, da duftet sie nach frisch aufgebrochener Zuckerschote, feucht, herbsüß. Es ist lange her, und doch erinnere ich mich jetzt an das Aroma so deutlich, als hätte ich meine Nasenspitze gerade erst an diese Wilderbse gedrückt. Dabei habe ich sie nicht mehr berührt, seit… seitdem. Inzwischen sind meine Arme viel zu kurz, die Gletscherspalten, die zwischen uns klaffen, zu überwinden. Das Licht ist kalt, die Sprachlosigkeit eisig. Es gibt Dinge, für die gibt es keine Erklärungen. Es gibt ja nicht einmal Fragen für sie. Ich lasse mich in den Schreibtischsessel fallen, nehme Kathys Bild in die Hand, lege den Daumen auf ihr Grübchen. Was weiß ich von ihr? Sie lebt in einem blauen Iglu namens Internet. Was macht sie dort? Wer weiß das? Google? Das ist verrückt. Aber dann tippe ich doch: Kathy Kern. Prompt erscheint auf dem Screen: Schirmherrin der Selbsthilfegruppe „Weiterleben e.V.“ Der Kaffee im Magen, heißer Wachs. Was hat das zu bedeuten? Mit einem Klick lande ich auf einem Portal, in dem verwaiste Eltern gemeinsam die Erinnerung an ihre verstorbenen Kinder pflegen. Und Kathy, meine Frau, sie ist die Gründerin dieses Vereins. Ich lehne mich zurück, meine Finger schließen sich zu Fäusten, öffnen sich wieder. Klicken weiter. Links die Monate, die Tage, an denen ein Sohn, eine Tochter gestorben ist. Januar. Einunddreißig brennende Kerzen. Unter ihrem Flackern die Namen der Kinder. Ich zögere. September. Unter der Kerze am achtzehnten steht: Dennis. Florian. Sybille. Nadine. Und dann: Annika. Da ist sie. Mein kleines Mädchen. Neben ihrem Namen ein schwarzes Kreuz. 2013. Klick. Der ganze Bildschirm: kastanienbraune Locken und ihr frohes Lachen. Irgendeine Faust trifft frontal meinen Solar Plexus, ich kippe nach vorn. Annika, sie hat nicht nur die Grübchen, sondern auch diesen bernsteinfarbenen Punkt neben der rechten Iris, wie Kathy. Engelsfunken hat sie das genannt. Ich habe das nie gesehen. Wie kann das sein? Was habe ich überhaupt gesehen, das wichtig war? Unter dem Foto weitere Links: Bilder von Annika. Gedichte für Annika. Zur Gedenkseite von Annika. Das Hemd ist unerträglich eng am Hals, ich zerre heftig an dem Kragen, die Knöpfe springen wie Popcorn in der Mikrowelle. Bilder über Bilder. Viele kenne ich nicht. Da - das allererste, das Ultraschallbild. Taufe. Geburtstage. Kindergarten. Da war ich auch dabei. Aber die zahllosen kleinen Alltagsmomente, im Garten, auf dem Spielplatz, im Zoo. Ohne mich. Ich klicke weiter, kann nicht mehr aufhören. Ich sehe hier, was ich alles nicht gesehen habe. In den kurzen, viel zu kurzen fünf Jahren ihres Lebens. Weil ich selten zuhause war. Aber mein Job war doch, meine Familie zu versorgen, oder? Und jetzt? Wie gerne würde ich das Schild an meiner Bürotür „Geschäftsführer“ eintauschen gegen einen, einen einzigen Nachmittag mit Annika. Gegen eine Stunde. Annika, ein kleiner Fisch, in meinem Aquarium, als das Wasser noch klar war. Ihr zarter Leib, warum habe ich nicht besser auf ihn achtgegeben? Ich hätte sie beschützen müssen. Wie brennen diese Gedanken, schlimmer als meine Augen. Annikas Gedenkseite. Oh Gott, die Beerdigung. Der grotesk kleine Sarg. Trauerschleifen. Gedichte wie „Memento“ von Mascha Kaléko. „Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang“, die Worte tanzen vor meinen Augen, „nur vor dem Tode derer, die mir nah sind…“ Eine Flut von Fotos und Worten, die mich mit sich reißt. Immer wieder lese ich, da steht: Dein Papa und Mama. Ich lese, undeutlich unter so viel Wasser, ich lese: „wir“ und „uns“. Wir? Sind wir das, Kathy? Dann muss ich schnell meine Schuhe suchen. Ich muss nach Hause gehen. Vielleicht sind meine Arme ja doch nicht zu kurz, ich muss es versuchen. Jetzt sofort. später:
Er ist eingeschlafen. Sein Atem folgt ruhigen Gezeiten. Ich bin viel zu aufgewühlt, liege auf der Seite und schaue ihn an. Markus. Er kam heute Nachmittag durch den strömenden Regen auf mich zu gerannt, mit zerrissenem Hemd und auf Strümpfen. Ehe ich etwas fragen konnte, breitete er die Arme aus und wickelte mich fest darin ein. Er presste mich an sich, als habe er Sorge, das Wasser könnte mich unter ihm wegspülen.
Etwas floss mir in den Nacken, ganz warm. Gemurmelte Worte, die ich in dem Tosen nicht hören konnte und doch verstand. In diesem langen Moment, in dem wir einfach da standen. Es ist nicht so, als wäre das Tote Meer meiner Traurigkeit plötzlich ausgetrocknet, natürlich nicht. Ich stopfe die Decke vorsichtig an seinem Körper fest. Aber am Ende dieses furchtbaren Jahres scheint es, als habe ich in ihm eine Insel gefunden, wo ich wieder an Land gehen kann.

Autorin / Autor: von Elke Werner (53)