Am Tropf

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Renée, 69 Jahre

Vor 6 Wochen kam Susi nicht von ihrem Vorsorgetermin zurück. Stattdessen erhielt ich einen Anruf von der Polizei. Sie sagten, der Stadtbus sei verunglückt. Es gebe Schwerverletzte, und meine Frau sei im Städtischen Krankenhaus. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen.  Wie ferngesteuert leerte ich ihre Sporttasche und stopfte etwas Wäsche, ihren Bademantel und ein paar Hausschuhe hinein. Als ich die Haustür schließen wollte, fiel mir ein, dass sie ja auch noch Waschzeug und ihre Medikamente brauchte. Ich weiß nicht  wie ich zum Krankenhaus gekommen bin. Die Schwester sagte mir, man operiere sie gerade. Es könne noch dauern. Ich müsse warten.
„Achim, sei froh, dass du mich hast“, sagte Susi immer. Und sie hatte Recht. Sie ist mein Dreh- und Angelpunkt, mein Leben. Wir sind seit 35 Jahren verheiratet. Susi hat das Ruder wie selbstverständlich in die Hand genommen. Ich war als Geschäftsführer eines Möbelhauses voll eingespannt. In meiner Tretmühle blieb keine Zeit für Hobbys oder für normalen Feierabend. Susi hat das klaglos hingenommen. Sie hat mein Leben organisiert. Auch, als ich vor ein paar Monaten in Rente ging. Diese viele Zeit plötzlich! Ich hatte so viele Pläne, dass sie mich erdrückten und ich rein gar nichts auf die Reihe bekam. „Du musst Alltag erst wieder lernen“, meinte Susi, „ich helfe dir dabei“. Ich war ihr dankbar.
Warten wurde mein neuer Lebensinhalt. Susi wachte nach der OP nicht auf. Sie liegt jetzt im Koma. Am ersten Tag war ich rund um die Uhr bei ihr. Sie hatte einen doppelten Schädelbruch und eine gebrochene Nase. Immer wieder betrachtete ich sie. Da lag ein verpackter Körper. Der Kopfverband verbarg ihr Gesicht fast vollständig. Es tat mir körperlich weh, Susis zuversichtliches Lächeln, ihre temperamentvollen Blicke und ihre Stärke vergeblich darin zu suchen. Da lag eine Fremde. Ich bekam Angst, fühlte mich wie ein hilfloses Kind. Allein gelassen. Ich hasste sie. Warum tat sie mir das an? Ich verachtete mich für diese Gedanken. Aber ich konnte es nicht ertragen, Susi in diesem Zustand zu sehen. Der typische Krankenhausgeruch und die kalten, nüchternen Zimmerwände jagten mir Schauer über den Rücken. Die Längsstreifen der halbtransparenten Gardine  kamen mir wie Gitterstäbe vor. Ich fühlte mich in der Falle. Mich selbst konnte ich auch nicht ertragen. Ich war auf der Flucht. Vor Susi, vor mir selbst, vor dem Leben und besuchte sie fortan weniger.
Am Tag nach dem Unfall stellte ich mich unbekleidet vor unseren großen Spiegel im Flur und schaute mich an, das ganze nackte Elend. Die faltiger werdende Haut, das schüttere, graue Haar, die ersten typischen Haltungsänderungen, die das Alter verraten. Und ich sah in meine leeren Augen. Ratlos, verwirrt, ohne Perspektive. Lange stand ich so da, bis ich mir zu kalt wurde.
Ich setzte mich an den PC und wollte alles über Komapatienten erfahren. Ich begann bei Wikipedia mit der einfachen Begriffsklärung. „Koma bedeutet Bewusstlosigkeit“ stand da. Es schwarz auf weiß zu lesen machte mir schlagartig klar, was Susi verloren hat. Ihr ganzes bisheriges Leben. Körper ohne Geist, schoss es mir durch den Kopf, und ich realisierte wie wenig solch ein Leben noch zu geben vermag. Mein Herz verkrampfte sich. Was geht in Komapatienten vor? Das Internet wies eine Flut von Artikeln auf, die einen Tsunami weiterer Fragen auslösten.
Ich saß Tag und Nacht vor dem PC, stieß auf Fragen wie „Wieso fällt man ins Koma?“, “Können Komapatienten weinen?“ oder „Spürt ein Patient im Koma, dass man ihn massiert?“ Das Frage- und Antwort-Spiel wurde zur Sucht. Ich wurde vom Koma-Kosmos geschluckt und ließ mich überfluten von Informationswellen, die an meine Seele schwappten und sie empfänglich machten für die Sorgen und  Probleme rund um das Koma, das auch mein Leben auf den Kopf gestellt hat. Ich vergaß zu essen. Hin und wieder übermannte mich der Schlaf für ein paar Stunden, um mich fit zu machen für neue Expeditionen. Ich recherchierte tagelang Fachartikel und Literaturquellen. Ich hing genauso am Tropf wie meine Frau. Nur anders.
Nach drei Wochen wurde es schwierig, neue Quellen zu finden. Ich wusste eine Menge über Komazustand und Wiedergeburt des Geistes, Reha-Maßnahmen und die Theorie des Lebens danach. Es war Zeit für den nächsten Schritt. Jetzt wollte ich mit ehemaligen Komapatienten Kontakt aufnehmen. Ich brannte darauf zu erfahren wie sie das Koma erlebt hatten und wie sie zurückfanden.
Wie ignorant ich durch mein Leben spaziert bin! Bei an all dem Elend um mich herum! Ich chattete mit Norbert G., der nach einem Zahnarztbesuch 2 Monate im Koma gelegen hatte. Gina19 musste 4 Monate um das Wiedererwachen kämpfen und moonrider41 war nach einem Herzinfarkt 5 Wochen im Koma. Am meisten aber berührte mich das Schicksal von Susi34. Nicht nur, weil sie den gleichen Namen hatte wie meine Frau sondern auch, weil sie es verstand, mir ihre Erlebnisse nahe zu bringen. Im Koma hatte sie in einer Art Albtraum erlebt wie achtlos und würdelos einige Pfleger und Schwestern sie behandelten und wie rücksichtslos ihre eigenen Geschwister an ihrem Bett über ihre spätere Abschiebung in ein Heim stritten. Aber auch wie ihre Mutter für ihre Rückkehr kämpfte und sie immer wieder unter Tränen streichelte. Sie las ihr Bücher vor, erzählte Geschichten von früher. Hier wurde Susi34 besonders emotional. Was sie im Koma mitbekommen konnte, war mehr als in ihrem früheren Alltag. Denn Susi34 war taubstumm.
Es zog mir das Herz zusammen, als mir klar wurde wie sehr ich meine Frau im Stich gelassen habe. Mittlerweile ist ihr Kopfverband verschwunden und das kastanienbraune Haar, auf das sie so stolz ist, umrahmt ihr blasses Gesicht. Wenn man wirklich im Koma manche Dinge mitbekommt, dann ist es noch nicht zu spät. Jetzt sitze ich den ganzen Tag bei ihr, mache es der Mutter von Susi34 nach und erzähle ihr jeden Tag, was wir alles tun werden, wenn sie eines Tages aus dem Koma erwacht. Ich bin wieder da.

Autorin / Autor: Renée, 69 Jahre