Entkommen ein Märchen

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Britta Vaid, 49 Jahre

Es war zu dieser Zeit nicht unüblich, dass Menschen, die viele Stunden im Internet verbrachten, manche skurrilen Dinge wahrnahmen, über die sie jedoch nicht sprechen konnten, denn es gab ein staatliches Kontingent von zwei Stunden Internet am Tag je Haushalt. Wer dieses Limit überschritt, musste mit einer Gefängnisstrafe rechnen. Und die Gefängnisse in dieser Zeit, waren nicht die, die man im vorigen Jahrhundert kannte, mit Freigang, Nasszellen und Bewährung. Nein, die Gefängnisse der heutigen Zeit waren dunkle Zellen ohne Betten, denn zum Schlafen kam man nicht. Es gab eine Leinwand für Filme, auf denen keine Filme gezeigt wurden, sondern Clips von barbarischen Tötungen von Tieren, die im letzten Jahrhundert noch der Nahrungsaufnahme dienten. Und es gab Schlachtungen von Menschen, deren Verzehr zwar nicht statthaft war, doch in den Gefängnissen durchaus üblich waren, um die Häftlinge und deren Wärter zu speisen, denn auch pflanzliche Ernährung war nur einigen wenigen vorbehalten, die sich durch Korruption und andere Machenschaften jeglichen Luxus erlaubten.

Chris hatte die halbe Nacht an seinem Notebook verbracht, um diesen teuflischen Virus zu entfernen, den er sich bei einem Download für einen dieser „Bundesliga-Live-Spiele“ eingefangen hatte.
Als Chris glaubte, diesen Kampf gewonnen zu haben, legte er sich schlafen.
Er wurde gegen Mittag wach und konnte sich, wie so oft, nicht mehr an seine Träume erinnern. Als er nach einem viel zu starken Kaffee und einer Portion Porridge vom Vortag sein Notebook startete, stellte er ärgerlich fest, dass sein Bemühen der letzten Nacht vergebens war. Der Virus war immer noch da und zu seinem Entsetzen hatte dieser sich in sämtliche Programme eingefräst. Er wollte dem Ganzen ein Ende setzen und einen Total-Reset starten, als er plötzlich eine Stimme hörte. Zuerst suchte er sein Smartphone, doch das war ausgeschaltet. Dann blickte er aus dem Fenster, doch von draußen konnte diese Stimme nicht kommen, denn es war Sonntag und die meisten seiner Nachbarn waren unterwegs zu dem obligatorischen Sonntag-Mittag-Spaziergang. Weder die Stereoanlage noch der Fernseher wollten ihm das Rätsel lösen. So war er sich sicher, sich das gerade mit der Stimme nur eingebildet zu haben.

Chris hatte sich über eine Freundin, die sich auskannte, eine illegale Adware zugelegt, um so der Verfolgung durch die Web-Polizei zu entgehen.
Als er die Stimme wieder hörte, glaubte er, ertappt worden zu sein und überlegte, was er noch alles für seine ohnehin immer gepackte Reisetasche für die Flucht noch brauchen würde.
„Komm’ mit!“er traute seinen Ohren nicht und war nun voller Angst. Ein Schimmer Hoffnung, dass er diese Stimme, von der er längst wusste, dass sie nicht aus seinem Kopf, sondern von seinem Notebook kam, ließ sich ihn an seinen Schreibtisch setzen.
„Vertrau mir!“
Chris war wie paralysiert. Er wusste, er musste fliehen, aber er klebte fest auf seinem Stuhl vor seinem Laptop.

Die Maisonne schien mild auf einer Almwiese in den Bergen. Ein ungefähr 25-jähriges Mädchen pflückte ein paar Kräuter und Blumen und blinzelte gelegentlich zu dem Mann, der wie leblos auf der Wiese lag und schlief.
Chris kam zu Bewusstsein, als das Mädchen ihm mit einem vertrockneten Halm eines Bergenzians über seine Mundwinkel strich.
Er suchte nach seiner Reisetasche, in der er seine Tabletten vermutete. Er musste die Medikamente regelmäßig nehmen, damit er den radioaktiven Strahlen  standhalten konnte.

Die junge Frau hieß Marie doch das hörte er sie nicht sagen, und überhaupt sprachen sie kein Wort miteinander. Sie kommunizierten über ihre Gedanken.
Manchmal träumte Chris noch von dem Tag, der alles für ihn veränderte. Er konnte nicht mehr zurück das wusste er.
Es gab auch keinen Grund dafür, denn er war wie durch einen Quantensprung in eine andere, hellere Welt gelangt. Und bei ihm war Marie. Das war alles, was zählte zumindest für den Moment.

Autorin / Autor: Britta Vaid (49)