Zeit bleibt stehen

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Morghan, 14 Jahre

-hi
hi
-wg?
gg ud?
-a wmds?

Ich schaue über den Handyrand hinweg, kurzer Blick, fast gehetzt, verkriech mich wieder zurück.
nix ud?
-a. muss off sry hdl bb
ok, ida, bb

Sie bleibt trotzdem online. So läuft das immer. 18 schnelle Worte, nur das nötigste, dann verabschieden. Aber ich bin nicht beleidigt.
Grelles Licht. Es blendet. Die Sonne geht unter und scheint durch die Terrassentür ins Wohnzimmer. Beleuchtet den Bart von Pa. Er sitzt auf dem Sessel. Angestrengter Blick zum Fernseher. Nachrichten. Terrorismus, täglich. Atomwaffen, nichts neues. Vergewaltigung, schon wieder. Morgens schimpft er über Nachrichten, schimpft über endlose Wiederholungen und berechenbare Ereignisse. Abends sitzt er wieder vor dem Fernseher. Mein Bruder am Nintendo. Sein vierter. 3DS XL Premium. Zeugnisgeschenk. Er springt auf die Köpfe kleiner Pilze. Am PC, meine Mutter. Guckt sich Abendkleider an. „Was? Nein, kaufen tu ich sie nicht. Nur angucken. Warum? Entspannt mich. Guck, was ich alles damit machen kann.“ Entspannt sie.
Wir verschwenden die Zeit weiter, liegen faul herum, machen nichts. Zeit bleibt stehen.
Und dann rennt sie davon.
Lampen und Stifte fallen von den Tischen. Lichter flackern. Sessel rutschen. Der Boden wackelt. Erster Gedanke: Apokalypse. „Erdbeben!“, Schrei meiner Mutter. Achso. Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei. Ich denke an Einstein. Nichts ist kaputt, nur alles durcheinander. Zeit bleibt stehen.
Und dann rennt sie davon.
Mein Bruder rennt in sein Zimmer, will an sein Tablet. Pa sucht die Fernbedienung. Ma den PC. Ich greife zum Handy. Doch alles bleibt aus. Schwarzer Bildschirm.
„Dummes Ding! Spring an!“, Stimmen aus dem Kinderzimmer.
Verzweifeltes Drücken auf den roten Knopf bei der Fernbedienung. Batterien raus. Batterien rein.
Stecker in die Steckdose. Chip installieren.
Auf den Startknopf drücken. 5 Sekunden, 10 Sekunden, eine halbe Minute.

Alles bleibt aus.

Erster Gedanke: Apokalypse. Es folgte kein Zweiter.

Stundenlange Leere in den Köpfen. Gefühlt. Pa springt plötzlich auf. Verwirrte Blicke.
„Wir fahren zu Oma. Nicht auszu... Wir haben sie lange nicht gesehen. Packt eure Sachen.“.

Insekten fliegen gegen die Autoscheibe, hinterlasssen dunkle Flecken. Mir ist nie aufgefallen wie viele Insekten wir hier haben.
„Du hältst die Karte falsch herum!“
„Verkauf mich nicht für dumm!“, Ma dreht die Karte um. Auch das Navi funktioniert nicht.
„Leg mir keine Worte in den Mund!“
Stimmen schwellen an.
„Tu nicht so, als wärst du allwissend!“
„Wie soll das gehen, wenn ich es weiß, und ihr alle nicht?“, seine Halsschlagader zeichnet sich ab.
Türenknallen.
„Frauen, immer das selbe.“

Gewohnte Plätze. Starre Blicke. Die Fahrt zu Oma fällt aus. Gott sei Dank, sie hat kein WLAN und ich muss immer auf meine Flat zurückgreifen.
Nieselregen. Eine Husche. Permanent prasseln sie gegen die großen Fenster, hinterlassen Rinnsale von dreckigem Wasser. Die Scheibe beschlägt, trägt einen grauen Schleier. Meine Stirn gegen das eiskalte Glas. Finger zeichnen Bilder. Zeichnen Zahlen, Buchstaben, Tasten, ein Display. Missmutiges Tippen.
Wie viele Nachrichten ich wohl schon bekommen habe? Wer schon sehnsüchtig auf mich wartet?

Lampen und Stifte fallen von den Tischen. Lichter flackern. Sessel rutschen. Der Boden wackelt. Der Schrei meiner Mutter bleibt aus. Erdbeben.

Fernseher springt an. „...in Teilen Nordamerikas verheerende Erdbeben...“
PC fährt sich hoch, fordert Username und Passwort.
Nintendo lässt sich einschalten. Klickende Geräusche von gedrückten X und Y Tasten.
Handy aktiviert sich. Sie haben 21 neue Whatsapp-Nachrichten.

Zeit bleibt stehen. Und dann rennt sie uns davon.

Autorin / Autor: Morghan, 14 Jahre