Digoxin ist ein Herzmedikament

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Gwendolin Simper, 22 Jahre

XX.XX.2014, XXtag
Es macht mich verrückt! Es macht mich einfach verrückt. Wie dein Leben von so ein paar kleinen Tabletten abhängen kann. Das gibt es doch nicht. Wir sind Menschen, wir haben uns die ganze Welt zu eigen gemacht. Aber dann machen wir uns von so ein paar kleinen Pillen abhängig. Halt, das bin ja nur ich. Die anderen können ja schön ihr Leben leben und sich freuen. Könnten sie. Aber sie haben ja so viele Probleme. Wollen wir tauschen? Ja? Liebend gerne! Komm, tausch mit mir! Aber das willst du ja auch wieder nicht. Da bleibst du ja lieber bei deinem ach so komplizierten Leben. Das Kleid oder den Rock anziehen? Mag mich dieser oder jener? Frag dich lieber, ob das Leben dich mag. Es tut nämlich weder das eine, noch das andere. Es hasst nicht und es liebt nicht. Dem Leben ist ganz einfach vollkommen egal was uns bewegt. Am Ende sind wir alle tot und manche halt ein bisschen früher. Macht doch nichts, es wird sich eh niemand an mich erinnern. Da ist es egal, wer was geleistet hat.
Aber ich will nicht! Sie stoßen mich ab. Ich hasse das Gefühl beim Schlucken. Ich meine – andere müssen aktiv etwas tun um sich umzubringen. Und ich müsste einfach nichts tun, nur normal leben. Ohne Tabletten. Und dafür hasse ich diese dämlichen Packungen. Digoxin, Abscheu.

XX.XX.2014, XXtag, abends
Ich wollte nicht mit solchen Floskeln anfangen. Liebes Tagebuch. Ein Tagebuch kann nicht lieb sein und das hier ist auch keins. Das sind einfach nur Worte, die aus meinem Kopf fallen und ich werde einen Teufel tun und meinen ganzen Tagesablauf hier aufschreiben. Interessiert eh niemanden. Dann kann ich auch einfach mit einem Knall anfangen zu schreiben, ohne Vorwarnung. Es liest ja sowieso keiner. Und es ist auch kein Blog. Ich schreibe nicht an irgendwelche Leser. Und nicht regelmäßig, auf keinen Fall. Das hier ist keine Verpflichtung, es ist mehr ein Ausleeren des Mülls in meinem Kopf. Wobei manche auch nach Wertvollem im Müll suchen.

XX.XX.2014, XXtag
Eigentlich kann ich so froh sein. Ja, ok, es könnte alles besser laufen. Aber die Prognosen sind ganz gut. Die im Krankenhaus können einem doch irgendwie Mut machen. Die wirklich schlimmen Krankheiten lassen einen doch noch machtloser dastehen. Ich kann ja wenigstens Medikamente nehmen, die helfen. Ich habe ein Foto von einem riesigen Fingerhut als Desktophintergrund. Digitalis lanata.

XX.XX.2014, XXtag
Ich würde alles dafür geben dieses Wort nicht zu kennen. Supraventrikuläre Tachykardie, Vorhofflimmern. Frequenzkontrolle mit Digitalispräparaten. Irgendwann geht jedem die Unbeschwertheit aus der Kindheit verloren. Den einen wird sie entrissen und die anderen schmeißen sie von sich. Ich hätte sie gerne behalten. Aber jetzt ist es zu spät.

XX.XX.2014, XXtag
So ein Herz ist ein ziemlich wichtiges Organ. Es hält alles am Leben. Es sorgt dafür, dass der gesamte Körper durchblutet wird, mit allem Nötigen versorgt wird. Aber wichtig ist eigentlich jedes Organ. Sonst hätte es sich schon lange zurückentwickelt, wäre verkümmert. Wie der Blinddarm. Rudimente. Oder wäre verschwunden, wie Fell am ganzen Körper oder ein Schwanz oder viele Brustwarzen. Und dann gibt es Atavismen, wenn es doch nochmal vorkommt. Wie nennt man das, wenn etwas lebenswichtiges, was nicht ausselektiert wurde, trotzdem kaputt geht? Unvermeidbare Opfer auf dem Weg zum perfekten Organismus. Wobei das Perfekte ja doch nie erreicht wird. Unnötige Opfer...
Manchmal regt mich Bio so auf. Ich kann mir das nicht anhören im Unterricht. Ich musste aufstehen, raus gehen, den harschen Wind spüren. Das ist Evolution, verdammt nochmal! Das hat nichts damit zu tun. Warum muss ich immer Parallelen ziehen? Ich krieg das nicht aus dem Kopf, da kann ich hier noch so viel davon schreiben. Das Herz ist nun mal meine zentrale Pumpe.
Ich kann nicht anders als immer die einen Dinge in die anderen hineinzuprojizieren. Das ist wie Fasching nur mit Worten, alles wird verkleidet. Ein Versuch das unaufhaltsam näher Kommende begreifbarer zu machen?

XX.XX.2014, XXtag
Heute, in der Schule, da ist es mir aufgefallen. Es ist wirklich so, dass alle Dinge ihre guten und schlechten Seiten haben, ganz objektiv betrachtet. So grausam und schmerzhaft wie sie sein können. Sogar Krieg und Verbrechen und unheilbare Krankheiten und der Tod. Ich darf das nicht laut sagen, das würde so ein Entsetzen hervorrufen. Ich kann ihre Gesichter vor mir sehen, ihre offenen Münder. Das wäre schön. Aber ich darf es nicht sagen, weil es alles Menschen sind und Menschen sehen immer erstmal ihre Seite der Medaille. Und man kann nicht erwarten, dass alle überhaupt merken, dass das was sie sehen nur eine Scheibe ist. Das was sich auf ihrer Seite ihnen entgegenwölbt, flieht von der anderen Seite. Und umgekehrt. Aber die Menschen sehen immer nur das eine. Und wenn jemand auf der anderen Seite der Medaille steht und davon erzählt was er sieht, dann merken sie nicht, dass es sich um dieselbe Aussicht handelt, nur aus einem anderen Blickwinkel.
Man darf es den Menschen nicht sagen, weil ihr Schmerz darüber vielleicht zu groß wäre. Man muss die Medaille von jedem einzelnen sehr ernst nehmen. Auch wenn es nur wertlose Blechscheiben sind, die am Ende alle eingeschmolzen werden. Aber es ist das einzige was man sieht und deswegen ist es wichtig.
Vielleicht sehe ich das jetzt alles, weil meine Medaille gerade abstürzt und ich mit ihr und sich alles dreht und wendet und ich die Augen zu machen muss, weil mir schwindelig wird.
Man sollte nicht urteilen. Leute treffen Entscheidungen und alle anderen können sie nicht nachvollziehen, wenn jemand sein Kind weggibt zum Beispiel. Aber niemand sieht dasselbe vor seinen Augen und solange es Erhebungen in unseren Blechscheiben gibt, gibt es auch Vertiefungen. Sie definieren einander. Das eine kann erst durch das andere existieren. Und sogar Schmerz und Freude sind relativ. Ich bin relativ krank, weil ich Digoxin nehmen muss um zu leben. Ich bin relativ gesund, dank Digitalis.

Autorin / Autor: Gwendolin Simper, 22 Jahre