Der soziale Tod

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Anna, 11 Jahre

Kate drehte sich in ihrem Schreibtischstuhl herum und überlegte, wie sie die Zeit totschlagen sollte, bis ihre beste Freundin Marietta endlich kommen würde.
Als ihr Computer piepte, hatte er sogleich ihre volle Aufmerksamkeit. Schrieb ihr jemand? War etwas passiert?
Neugierig öffnete Kate das Mailprogramm, weil es das einzige war, das Töne von sich geben konnte.

Hallo, Kate.

Mehr stand da nicht. Kein Name, keine Grüße, kein Text. Sie sah auf die Mail-Adresse. luca@email.de lautete sie. Kurz überlegte Kate, ob sie die Nachricht nicht einfach löschen sollte, dann aber befand sie, dass sie sowieso nichts zu verlieren hatte und schrieb zurück.

Hi Luca.
Wer bist du?
Grüße, Kate


Das musste reichen, zumal diese Luca – oder dieser? – ihr ja nicht einmal halb so viel geschrieben hatte.
Nur Sekunden später piepte es erneut und sie hatte eine weitere Mail.

Ich bin eben Luca.
Gruß.


Kate begann langsam, sich zu wundern. Wieso schrieb sie einfach jemand an? Trotzdem war sie zu neugierig, um nicht zurückzuschreiben.

Hallo Luca,
und wieso schreibst du mich an?
Viele Grüße
Kate


Sie starrte gebannt auf den Bildschirm. Tatsächlich ertönte bereits der nächste Laut und die nächste Mail trudelte ein.

Wieso sollte ich das nicht tun?
Luca.


Klar, Kate fand es seltsam, dass sie mit irgendjemandem schrieb, bei dem sie nicht einmal wusste, ob er männlich oder weiblich war, aber trotzdem konnte sie sich nicht zurückhalten: Hastig tippte sie eine neue Mail.

Wie alt bist du? Bist du weiblich oder männlich?
Bye
Kate


Als nach dieser Nachricht längere Zeit nichts kam, dachte Kate erst, dass Luca die Unterhaltung aufgegeben hatte, aber dann piepte es doch noch und sie öffnete schnell die neue Mail.

Du musst nicht wissen, wie oder was oder wer ich bin, es reicht, wenn ich weiß, wie oder was oder wer du bist.
Ich weiß alles über dich, Kate, glaub mir, aber du weißt nichts über mich.
Gruß, Luca.


Als Kate die Mail las, zog sich ihr Magen zusammen. Es gab so viele Schauergeschichten von Leuten, die bedroht worden waren, per Mail bedroht worden waren … Sie verdrängte den Gedanken und nahm sich vor, noch eine letzte Mail zu schreiben.

Was weißt du schon über mich? Beweise es mir doch!

Sie wusste, dass es gewagt war, diese Sätze zu schreiben, aber sie war neugierig und aus Luca bekam man ja nicht viel heraus, wie es aussah.

Alles, Kate. Du willst Beweise? Gerne doch. Du bist vierzehn Jahre alt, am elften Mai 2000 geboren, deine beste Freundin heißt Marietta, dein Lieblingsessen ist Spagetti Bolognese, du gehst auf das Goethe-Gymnasium, wohnst in München, hast braune, schulterlange Haare, hättest gerne einen Freund, bist heimlich in Marc aus der Klasse über dir verknallt, versteckst dein Tagebuch unter der Matratze, liebst schwimmen … Noch mehr Beweise?

Kate war schlecht. Wer auch immer das war, er wusste viel über sie. – Alles.

Woher weißt du das?

Sie wartete keine zwanzig Sekunden, als bereits die nächste Mail auftauchte.

Ich bin Hacker.

Sie sprang auf und stürzte ins Badezimmer. Sie würgte, weil ihr klar war, woher Luca alles über sie wusste. Facebook. Sie hatte sämtliche Daten eingetragen und nie sonderlich auf Schutz geachtet. Und jetzt … lag diesem Typen da ihr gesamtes Privatleben zu Füßen. Irgendwem. Einem Mann oder einer Frau, einem Jugendlichem oder einem Erwachsenen. Und sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun konnte. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel und stellte fest, dass sie blass wie eine Wand war.
Als sie aus ihrem Zimmer den Computer erneut hörte, lief sie langsam zurück und atmete möglichst ruhig.

Dein Facebook-Account ist mein …

So lautete die Nachricht. Kate war noch immer übel. Sie öffnete das Internet und loggte sich hastig bei Facebook ein. Ihr Passwort war nicht sicher, aber sie konnte sich eben keine Passwörter merken.
Kate sah auf die Pinnwand und stellte fest, dass sie siebzehn neue Nachrichten hatte. Sie klickte die erste an und hätte sich beinahe erneut übergeben, als sie den Inhalt las.

Sag mal, spinnst du?! Auf mich kannst du verzichten, heute, morgen und für immer! Beschissenes restliches Leben noch!

Die Mitteilung stammte von ihrer besten Freundin Marietta.

Was habe ich denn gemacht?

Sie tippte den Satz hastig und schickte die Nachricht ab. Fast augenblicklich erhielt sie eine Antwort.

Da fragst du noch?! Du hast öffentlich geschrieben, dass ich eine miese kleine Schlampe bin!

Die Buchstaben verschwammen vor Kates Augen. Wie … Es konnte nur eine Lösung geben. Luca musste das geschrieben haben.
Mit einem Klick öffnete sie die Pinnwand und scrollte durch ihre letzten Beiträge, die nicht von ihr stammten.

Marietta Berger ist eine miese kleine Schlampe!, da stand es, schwarz auf weiß. Darunter und darüber fanden sich ähnliche Beiträge über ihre Freundinnen und Freunde.
Wenn man mit Alina in einem Raum ist, stinkt es überall!
Linea ist die bescheuertste Idiotin der Welt!

So zogen sich ihre Beiträge immer weiter. Entsetzt las Kate mehr und mehr. Dann klickte sie erneut auf die Mitteilungen und sah sie eine nach der anderen durch.
Fünfzehn waren von ihren wütenden und enttäuschten Freundinnen, die letzte von einem Account mit dem Namen Luca.

Kate, das, was du gerade erlebst, hat einen Namen. Es nennt sich Spaß … für mich. Und weißt du, wie es für dich heißt? Weißt du das? Nein? Es heißt für dich: Der soziale Tod.
Deine Freundinnen werden sich unter Garantie von dir abwenden. Viel Spaß, so ganz allein …


Kate legte den Kopf in die Arme und weinte.  Was hatte Luca nur mit ihr gemacht?
Nachdem sie eine ganze Weile so dagesessen hatte, fasste sie sich ein Herz und schrieb eine Mitteilung an ihre Freundinnen, eine Rund-Mitteilung.

Ich habe die gemeinen Sachen über euch nicht geschrieben, glaubt mir bitte. Mein Facebook-Account ist gehackt worden.
Ich will euch nicht verlieren, bitte nicht. Niemals. Ich würde so etwas nie tun!
Eure Kate


Dann weinte sie erneut. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass die Freundschaften sich bewähren würden …

Autorin / Autor: Anna, 11 Jahre