Doch dann kam der Tod

Wie könnten Bäume weiter im Wind wehen und die Blumen weiter blühen, als wäre nichts geschehen?

Im Leben kommt eigentlich nie etwas, wie man es erahnt. Nach Jahre langer Suche nach einem Freund wird man auf einem Konzert fündig, bei dem der eigene Schwarm abgesagt hat. Nach einem Jahr voller Auf und Abs, voller Höhen und Tiefen kann ich davon nur ein Liedchen singen. Doch dann kam der Tod, und nichts schien mehr wichtig zu sein.

*Es war nicht wahr...*
Er war doch immer der gewesen, der Party gemacht hatte, der die Laune gehalten hatte, der immer gut drauf gewesen war. In dem Moment in dem man es erfährt, beginnt man zu verarbeiten, und es heißt viele Phasen durchzumachen. „Er hat sich vor einen Zug geworfen“ Ich bin ganz ruhig geblieben. Man hört es ständig in den Krimiserien. „Frau Weber, es tut uns leid“. Es war nicht wahr. So etwas passiert mir nicht. So etwas passiert nur in diesen Jugendromanen, in denen irgendwelche Teenies Drogen nehmen oder Mädchen magersüchtig sind. Irgendwo, ganz weit weg. Nicht hier, in unserem kleinen Dorf. Dann bin ich in mich zusammengesackt und habe geweint. „Warum?“ habe ich immer wieder gerufen, habe geschrieen. Doch niemand hat geantwortet. Meine Hände haben gezittert als ich den Abschiedsbrief in meinen Händen gehalten habe. Nein, es war doch nicht war. Die Nachricht hatte den Weg in mein Hirn noch nicht gefunden, und sobald würde sie es auch nicht tun. Die ersten Tage hatte ich kaum Zeit für mich allein, versuchte stark zu sein. Gemeinsam waren wir stark. Am Tag nach der Nachricht gingen wir alle zusammen los, um uns Ohrringe und Piercings für ihn stechen zu lassen, die er doch so geliebt hatte.

*Ich fragte mich immer wieder: Warum?*
Als ich das erste Mal allein zu Hause war, brach alles aus mir heraus wie ein Damm. Eingeschlossen in mein Zimmer überschwemmte mich immer wieder die Welle der Erkenntnis, in der mir klar wurde, was es bedeutete. Ich begann ihm Briefe zu schreiben und mit ihm zu reden, fragte ihn immer wieder warum. Warum? Der Zeitungsartikel war so abstrakt. Man kommt sich vor wie in einem Film. Zug tötete Jungen. Tötete, nein, das ist nicht wahr. Täglich hatte ich es gelesen und auf einmal wurde mir die Bedeutung dieses Satzes mit einer solchen Heftigkeit bewusst, dass ich mich am liebsten übergeben hätte. Weinen reichte nicht mehr, ich wollte Zerstörung. Ich besuchte sein Zimmer. Zu wissen, dass da niemand mehr im Bett schlafen würde und an dem kleinen Tischchen niemand mehr rauchen würde, erdrückte mich. In der Ecke stand mein Geburtstagsgeschenk an ihn.

*Wie konnte ich nur lachen?*
Ich begann mir Sorgen um meine beste Freundin zu machen, die mit ihm zusammen gewesen war. Ich wollte für sie da sein, denn schließlich hatte sie es um einiges schwerer als ich. Manchmal wollte ich einfach nur weinen, aber wenn ich sie sah, riss ich mich zusammen. Dann wollte ich mich zum Traurigsein zwingen. Wie konnte ich nur lachen? Ich wollte traurig sein, um schneller zu verarbeiten, um dieser Hölle zu entfliehen. Es sind Kleinigkeiten, die einen traurig machen. Über ihn in der Vergangenheit zu reden machte das alles so real und das wollte ich nicht. Ich wollte in eine neue Welt, mit ihm, lebendig. Ich spürte an lebendigem Leibe, was man meint, wenn man von der „Feigheit eines Selbstmörders“ spricht. Ich fühlte mich allein und im Stich gelassen.

*Ich war wütend auf ihn*
Und so begann die Phase der Wut. Ich war wütend auf ihn. Wie konnte er nur? Hatte er keinerlei Bedenken gehabt, was er uns damit antun würde? Ich hatte Probleme in der Schule. Und zu allem Überfluss begannen mich Mitschüler zu ärgern und auszulachen, wenn es mir schlecht ging. Nichts war mehr wichtig. Schule. Was bringt das Warten auf die Zukunft schon, wenn jeden Moment alles vorbei sein kann? Ich hatte Angst. Angst vor mir selbst und Angst vor dem, was kommen würde. Denn ich verstand die Welt nicht mehr. Wie könnten Bäume weiter im Wind wehen und die Blumen weiter blühen, als wäre nichts geschehen?

*Für immer“ ist verdammt lange*
Dann begann die Phase der Träume, und sie ist bis heute nicht beendet. Es sind seltsame Träume, Träume die mich mal ängstlich, mal traurig machen. Aber ich erfuhr auch viel aus ihnen. Ich erfuhr, dass ich seinen Leichnam gerne noch einmal sehen würde, ihn gerne noch ein letztes Mal sehen würde. „Es ist schlimm genug, dass du tot bist, aber du bist es nicht einmal in ganzen Stücken.“ Die Phase, in der man an nichts anderes mehr denken kann, verabschiedete sich überraschend schnell und wiegte mich in dem sicheren Glauben, alles sei überstanden. Doch die Träume blieben und immer wieder schlägt es mich zurück und ich scheine wahnsinnig zu werden. Eine dumme Kleinigkeit, und ich klebe wieder an ihm. Träume werden zu Erinnerungen, und die Erinnerungen legen mir diese Bilder in den Kopf. Er wirkt so lebendig, wenn ich sie anschaue, doch genau das macht ihn noch toter. Vermisst er sein Leben? In Träumen redet er mit mir, und das Erwachen reißt mich in die Realität zurück. So zieht sich der Prozess des Verarbeitens und der Trauer hin, und man weiß nie, was als nächstes kommt. Doch eines ist gewiss: Er ist tot. Ab jetzt für immer. In einem Jahr ist er ein Jahr tot. In zwei Jahren zwei. „Für immer“ ist verdammt lange.

Autorin / Autor: stricksogge - Stand: 17. Oktober 2007