Die Digitalisierung

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Jana, 16 Jahre

"Stell dir eine Welt vor, in der du sein und machen kannst, wer und was du willst. In der es keine Strafen und keine Zeit gibt. In der du ohne Probleme Kontakt zu Menschen aus aller Welt haben kannst. Und jetzt wird dir klar, dass das alles möglich ist. Dass wir in einer solchen Welt leben könnten. Einzige Voraussetzung: Umdenken. Digitalisiert euer Leben und macht die Welt zu einem besseren Platz", grinste ein kleines Mädchen aus meiner Erinnerung. Seine hellblonden Haare waren zu Zöpfen zusammengebunden und in seinen großen, grünen Kulleraugen lag eine Art Stolz. Stolz über die auffällige Zahnlücke vielleicht oder den Auftritt in einer Werbekampagne.

Neun Jahre später, 2104, sah die Sache anders aus.
Mürrisch ließ ich meinen Blick über mein Spiegelbild ziehen.
Meine Haare waren nicht mehr blond, sie waren hellbraun und viel zu kurz, als dass man sie hätte mit Haargummis bändigen können.
In meinen immer noch großen Kulleraugen spiegelte sich kein Stolz mehr, eher etwas wie Traurigkeit oder Leere.
Die Zahnlücke war ich zum Glück los.
Genervt von den Blicken aller anderen um mich herum wusch ich mein Gesicht und ging zurück in die Zelle.
"Das süße Mädchen aus der Werbung für die Digitalisierung" hatte sich verändert.

Mit sechs Jahren freut man sich, wenn man im Mittelpunkt steht und damit berühmt werden kann. Auch wenn man nicht mal weiß, worum's geht.
Angefangen hat das alles mit Smartphones. Die gaben ja die Möglichkeit, einen Menschen pseudo-anwesend zu machen.
Weiter ging es mit der Verbreitung des Online-Handels.
Es wurde versucht, möglichst wenige Menschen mit Präsenzarbeitsplätzen zu beschäftigen. Alles sollte online ablaufen. Alles sollte digital sein. Alles sollte überwacht werden.
Und ich, unwissend wie ich damals eben war, hatte mich gefreut, in einem „harmlosen Film“ mitzuspielen. So wurde ich das Gesicht des Digitalisierungs-Projekts und der Überwachung.
Und ich wurde bekannt und beliebt.

Nach ein paar Jahren, wurde ich zu einem neuen Spot einbestellt, um am Menschen angebrachte "Digi-Chips" - Mikrocomputer, um Nachrichten zu verschicken oder technische Geräte durch Gedankenkraft nutzen zu können – und war aufgeklärter. Ich wusste, dass die Menschen den Kontakt zueinander verloren, obwohl sie immer in Verbindung waren. Ich spürte, wie alle einsam wurden. Ich sah, wie die Straßen unserer Stadt sich leerten.
Ich war überzeugt, dass die Digitalisierung schlecht war. Also weigerte ich mich mit elf Jahren einen neuen Film zu drehen.

Da wurde die Regierung aufmerksam. "Du kannst den Fortschritt nicht aufhalten", sagte man mir, "Niemand will mehr wie die Leute im zwanzigsten Jahrhundert leben."
Nach einem Gespräch mit irgendeinem Snob, besuchte ich ein Gefangenenlager. Der wohl einzige Ort, wo die Digitalisierung komplett durchgesetzt werden konnte. Später war die ganze Welt digital - fast zumindest - und ich hatte einen wichtigen Beitrag dazu geleistet.
Jetzt weiß ich, dass der Ausflug mich vom Rebellieren abschrecken sollte, aber damals taten mir die "Bewohner der vom Staat finanzierten Einrichtung" einfach nur leid.

Ein Jahr später traf ich auf einem leeren Kinderspielplatz eine bemerkenswerte Truppe.
Ohne Worte wurde mir ein Stapel Papier gereicht. Es waren Widerständler gewesen, die meinen Geist für die Revolution geweckt hatten.

Ich war offensichtlich nicht alleine und trotzdem wurde mein stiller Protest durch Missachtung der mittlerweile gesetzlichen Digitalisierung mit einem mitleidigen Lächeln abgestempelt. Also wurde ich aktiv.

Am Anfang klaute ich den wenigen Menschen, die auf den Straßen waren, ihre Smartphones, deren nervtötende Geräusche mich dazu brachten, die Geräte mit einem Vorschlaghammer zu zerstören. Später nahm ich den weniger werdenden Passanten ihre "Zweckz" weg. Kleine Klappcomputer, die Terminkalender, Wecker, Personal Assistant, Wörterbuch, Kontozugang, E-Book Reader, Internetzugang und noch vieles mehr in einem waren.
Früher konnten Smartphones das wohl auch alles, aber jetzt waren diese Teile ausschließlich zur Kommunikation gedacht.
Und um wirklich Ärger zu machen, zerstörte ich "Digi-Chips" mit Magneten.
Gelernt hatte ich das und alles andere über Vergangenheit und Aufstände gegen die Staatsgewalt von Büchern und den Dokumenten, die mir auf dem Spielplatz gegeben wurden.

Doch auch das alles erzielte kaum Wirkung. Ich hoffte auf irgendeine Reaktion.
Und die kam. Zwar erst ein halbes Jahr nachdem ich fünfzehn und vollkommen strafmündig geworden war und die Internetverbindungen gekappt hatte, aber immerhin.
Ich wurde in ein Umerziehungslager gesteckt, eine "vom Staat finanzierte Einrichtung".

Dort lebte ich jetzt seit einiger Zeit und sah trotz völliger Abgrenzung von der Außenwelt durch "digitale Fenster" - große Monitore - Werbefilme und Liveübertragungen von glücklichen digitalisierten Menschen, Hüllen, die von ihren "Zwecks", "Digi-Chips" und "Smartphones" manipuliert wurden. Die ohne nachzufragen alles hinnahmen.
Die einfach nur alleine waren.

Einmal hatte ich eine Übertragung von einem Mann gesehen, der im Audiokommentar als Irrer bezeichnet wurde, nur weil er versuchte, seinen "Digi-Chip" loszuwerden.
Er hatte aber Glück, er hatte sich für das Ding einen Ort aussuchen dürfen.
Mein Chip, den man bei meiner Einweisung gewaltsam eingesetzt hatte, war knapp neben Halsschlagader. Vermutlich, damit ich ihn nicht herausschnitt.
Rebellen waren also gekennzeichnet oder beim Versuch, sich von den Mikrocomputern zu befreien, gestorben.

Es quälte mich, gefangen und alleine zu sein.
Ohne körperliche Nähe oder ehrliche Gefühle.
Mit dem Wissen, dass die Menschen und ihre Gedanken, Ängste und Ziele schamlos ausgenutzt wurden.
Mir war klar, dass die Gesellschaft die Digitalisierung nicht überstehen würde.
Ich musste meinen "Digi-Chip" loswerden, aber ich würde nicht an dem Versuch verenden, sondern anschließend weiter machen können.
Ich musste aus der Einrichtung.
Wollte die Welt zu einem besseren Ort machen.
Würde kämpfen, ohne Rücksicht auf Verluste.