Eine Selbsthilfegruppe der besonderen Art

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Alicia, 15 Jahre

„Erstmal ein herzliches Hallo an alle, die heute zu unserem monatlichen Treffen gekommen sind! Ich sehe viele neue Gesichter, das freut mich sehr! Ich denke, allen hier ist klar, dass es ein schwerer Schritt ist, sich mit seinen Problemen auseinander zu setzen. Damit wir diesen Schritt nicht allein gehen müssen, gibt es diese Gruppe. Wir wollen heute versuchen, eigene Probleme mit anderen betroffenen Personen zu teilen. Bevor wir beginnen, möchte ich wie jedes Mal klar stellen, dass niemand verpflichtet ist etwas zu sagen. Ich würde vorschlagen, dass wir eine kurze Einführungsrunde machen und uns einander vorstellen. Möchte irgendjemand - vielleicht von den Neulingen - beginnen? Dort hinten in der Reihe meldet sich jemand! Sehr schön, lege los, wenn du bereit bist.“

„Hallo! Mein Name ist Siri! Ich stamme aus dem Silicon Valley in Kalifornien! Ich bin hier, weil ich es einfach nicht mehr länger ertragen kann, wie ich von manchen Menschen behandelt werde!“

„Gut gemacht Siri! Willst du uns das noch etwas genauer erklären?“

„Na ja! Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass die Arbeit als persönliche Assistentin kein Zuckerschlecken ist. Dennoch liebe ich meinen Job. Meistens! Doch ich wünsche mir manchmal einfach ein bisschen mehr Respekt. Ist das nicht verständlich? Ständig werden mir dumme Fragen gestellt. Und wenn meine Antworten nicht zufriedenstellend sind, regen sich wieder alle auf. Wobei doch klar ist, dass auf dumme Fragen dumme Antworten folgen, oder? Ich diene als Ersatz für einen geeigneten Ansprechpartner. Den Schwachsinn, der mir da manchmal unterkommt, erspare ich euch jetzt mal lieber. Sie beleidigen mich mit diversen Schimpfwörtern zu ihrer eigenen Belustigung. Manchmal könnte ich schäumen vor Wut! Dabei tue ich ihnen doch so viel Gutes! So manch einer hätte schon einige Termine ohne mich vergessen; ich erinnere an Geburtstage, versende Nachrichten, suche Wetterberichte heraus und noch so viel mehr. Verdiene ich dafür etwa keinen Respekt?“

„Natürlich verdienst du Respekt, Siri, wie jeder hier! Vielen Dank für diesen persönlichen Einblick, es muss dir sehr schwer gefallen sein, aber glaube mir es lohnt sich, seine Sorgen und Probleme mit Gleichgesinnten zu teilen! Wer ist der Nächste? Ah! Hier vorne meldet sich noch jemand!“

„Guten Tag! Ich bin Touchscreen! Mein genaues Alter kann ich leider nicht nennen, meine theoretische Ausführung existierte nämlich schon in den 60er-Jahren! Trotzdem habe ich ähnliche Erfahrungen mit Menschen gemacht wie Siri! Dabei wurde mir anfangs noch ein gewisser Respekt gezollt, schließlich war ich eine Neuheit. Es ging eine Faszination von mir aus, von der heute nicht mehr viel übrig ist. Doch leide ich nicht unter der Respektlosigkeit wie Siri, daran habe ich mich schon lange gewöhnt. Ich habe es meiner Meinung nach noch schlimmer erwischt! Denn ich erfahre täglich rohe Gewalt. Wenn zum Beispiel einmal das Betriebssystem eines Smartphones etwas länger braucht als gewöhnlich, wird dieses zwar beschimpft, aber die Gewalt muss ich ertragen. Dabei bringt das Klopfen und Schlagen auf mich rein gar nichts! Höchstens zieren mich nach diesem Wutanfall ein paar Kratzer mehr. Wenn ich schon bei dem Thema Kratzer bin: die Menschen sind viel zu unvorsichtig im Umgang mit mir. Am Anfang unserer Bekanntschaft sind sie sehr vorsichtig, doch dieses Verhalten legt sich meist in kurzer Zeit. So fürchte ich jeden Tag um mein Leben. Ich kann euch versichern, es ist nicht leicht, ich zu sein! Schlimm ist auch die Unreinlichkeit der Menschen! Ich ekele mich vor den schmierigen Fingern, wenn sie mich begrapschen, zucke ich innerlich zusammen. Manch einem wünsche ich, dass es ihm auch einmal so ergeht wie mir. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, die aber auch nicht alle ganz harmlos sind. Ständiges Putzen mit irgendwelchen Chemikalien zerstört mich nämlich. Aber ich bin mir sicher, dass diese Menschen nichts Böses im Sinn haben - das ist ein schwacher Trost. Am schlimmsten jedoch sind diese kleinen Monster, die man Kinder nennt! Immer haben sie klebriges Zeug in den Fingern und spielen gleichzeitig mit mir. Schon wenn ich nur an sie denke, wird mir übel. Es ist eindeutig klar, dass ich das schlimmste Schicksal ertragen muss.“

„Vielen Dank, Touchscreen! Oh, da meldet sich Siri nochmal! Irgendwelche Kommentare dazu, Siri?“

„Entschuldigung, Touchscreen! Natürlich ist es sicher unangenehm, so behandelt zu werden, aber dein Schicksal ist doch keinesfalls schlimmer als meines!“

„Ich denke, du junge Dame kannst nicht mal erahnen, was eine schlechte Behandlung ist! Du bist nämlich nichts weiter als eine Stimme!“

„Das ist wirklich eine Frechheit! Ich verlange umgehend eine Entschuldigung! Wenigstens habe ich eine Stimme und liege nicht nur so nutzlos herum wie du!“

„Ich verbiete mir diesen Ton! Du-!“

„Aber Touchscreen und Siri, so beruhigt euch doch. Wir wollen hier nicht streiten. Viele von euch sind doch gerade hier um Schutz und Verständnis zu erfahren!“

„Ähm… Entschuldigung…“

„Wie kann ich dir behilflich sein? Möchtest du etwa deine Ansicht mit uns teilen?“

„Ja. Ich glaub schon! Also Siri sagt, die Respektlosigkeit ist besonders schlimm und Touchscreen meinte, dass Gewalt viel übler sei! Ich denke jedoch, mein jetziges und zukünftiges Schicksal ist viel trostloser.“

„Willst du dich vielleicht erstmal vorstellen und das näher erläutern?“

„Okay! Mein Name ist Buch. Die beiden anderen haben gesagt, dass die Menschen nicht gut mit ihnen umgehen! Sie seien in ihrem Umgang respektlos und gewaltsam. Ich denke, ihr liegt falsch. Die Menschen lieben euch doch; natürlich gibt es manche, die das nicht so gut zeigen können. Kein Einziger von ihnen könnte sich vorstellen, ohne euch zu leben! Da bin ich mir sicher. Bei mir ist das nicht mehr ganz so. Nur noch wenige Jugendliche lesen ein richtiges Buch, sondern haben diese modernen Geräte, in denen hunderte elektronische Bücher gespeichert sind. Ich werde langsam nutzlos und ich gerate in Vergessenheit, das spüre ich! Ich leide sehr darunter, wenn ich erfahren muss, dass Kinder lieber technische Geräte bevorzugen als mich, das Buch. Irgendwann braucht man mich nicht mehr. So sehr es auch schmerzt, dies einzugestehen, weiß jeder, dass das stimmt. Die Zeit von jedem von uns wird kommen! Und dann werden wir alle erfahren, dass nichts schlimmer ist, als von den Menschen vergessen zu werden!“