„Lieber Freund“ – Die Geschichte einer Gelähmten

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Anna, 16 Jahre

Lieber Freund,

ich schaue gerade aus meinem Fenster; mein Lieblingsfenster im ganzen Haus: es ist groß und rund und mit einem wunderschönen orange-rotem Rahmen versehen. Doch wenn ich herausschaue, sehe ich nur grau.
Die einstmals grünen Bäume mit den Vögeln auf den Ästen, unsere alte Schaukel im Garten, die Nachbarhäuser: Alles grau.
Du kannst damit jetzt nichts anfangen, ich weiß. Und wahrscheinlich kannst du dich nicht mehr an mich erinnern, doch ich kenne dich noch ganz genau. Grundschule.
Und deswegen schreibe ich dir: Weil du Abstand zu mir hast. Zeitlich und auch örtlich.
Ich hoffe, dieser Brief verwirrt dich nicht zu sehr. Wenn ja, dann schmeiß ihn einfach weg. Aber du solltest einmal lesen, was ich schreibe, denn es ist meine persönliche Geschichte. Die Geschichte von mir.

Weißt du, es ist nicht so, dass mich das sonderlich überrascht, das Grau.
Ich bin es ja gewöhnt, dass meine Farbenwelt sich irgendwo zwischen einem hellen Mausgrau und einem dunklen, schmutzigem Grau bewegt. Es sollte mich zumindest nicht überraschen. Doch ein Schock ist es auf jeden Fall irgendwie jedes Mal. Selbst dieser wunderschöne Fensterrahmen ist grau und in meiner Erinnerung hat er auch nur noch einen Abklatsch der ehemals so leuchtenden Farben. Dabei habe ich Farben so geliebt. Für mich können Farben tanzen. Nicht normal, wie Menschen, sondern einzigartig. Fließend und rhythmisch zugleich. Fast wie Wasser, nur eben bunter. Manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, stelle ich mir Farben vor, versuche mich zu erinnern, wie pulsierend das Rot und wie beruhigend das Blau war. Doch meistens fange ich dann an, zu weinen. Am Anfang habe ich mich dafür geschämt, doch mittlerweile ist es wie eine Therapie geworden. Traurig eigentlich. Doch man gewöhnt sich daran.
Es gibt aber auch Tage, da verfluche ich den Mann, der mich hat farbenblind werden lassen. Mit seinem blöden Spiegel wollte er die „Sonne einfangen“. Aber anstatt, dass er sie einfing, fiel das Licht direkt in meine Augen. Seitdem ist mein Leben grau. Er hat sich natürlich unendlich oft entschuldigt und ich habe ihm unendlich oft vergeben, doch manchmal braucht man eben einen Sündenbock, nicht wahr?
Mittlerweile schaue ich nicht mehr aus dem Fenster. Ich muss mich konzentrieren, den Brief zu schreiben; denn ohne Konzentration spielen die Muskeln nicht so richtig mit.
Muskeln. Ich hätte gerne mehr davon. Ich meine, klar, ich habe welche, aber sie sind so schwach.
Ich bin so schwach.
Nun ja, eigentlich nicht einmal schwach. Sondern hilflos.
Ich habe manchmal das Gefühl, ich bin gefangen. In mir selbst. Meine Gedanken sind so voll mit freien, fliegenden und tanzenden Träumen, dass ich manchmal das Gefühl habe, ich schwebe.
Aber ich kann nicht schweben. Und auch nicht tanzen, fliegen, nicht Rad fahren, schwimmen, ich kann nicht rennen, hüpfen, weder kriechen noch ziehen geht. Ich kann nur sitzen und warten, bis mir jemand hilft. Ich bin gelähmt. Vom oberen Rücken ab. Meine Arme und Hände sind nur bedingt brauchbar. Es ist anstrengend.
Schreien hilft da nichts mehr, weißt du. Ich habe schon stundenlang geschrien, seit dem Tag als ich 4 war und der Unfall geschah. Mein Leben ist ein einziger Schrei. Mal laut, mal stumm. Aber was ich wirklich hasse, sind die Leute, die mich mitleidig anschauen und sagen: „Ach, das arme Kind! So jung und schon im Rollstuhl!“. Ich kann es nicht mehr hören und will es auch nicht mehr hören.
Ich will tanzen können, so wie die Farben. Und schwimmen. Und einmal, einmal nur würde ich gerne rennen können. So richtig schnell, von allem weg; ich würde die Kraft in meinen starken Muskeln spüren, die Luft, die hart und kalt gegen mein Gesicht strömt. Und ich würde nie mehr wieder kommen.
Was mich am meisten beschämt, ist, dass ich am liebsten vor meinen Eltern wegrennen würde. Ich liebe sie, wie fast nichts anderes auf dieser Welt, doch auch in ihren Augen kann ich das Leid erkennen. Das Leid, das ich wahrscheinlich ausstrahle. Doch genau das will ich nicht. Ich bin doch schon unglücklich genug, meine Eltern sollen nicht auch noch unglücklich sein. Sie sollen froh sein, ihr Leben genießen. Aber das können sie nicht, denn ich bin da.
Es gibt im Grunde genommen niemanden, dem ich gut tue. Weder meinen wenigen Freunden, noch meiner Familie.
Ich würde dir gerne noch viel mehr schreiben, doch ich merke, wie mir die Kraft ausgeht. Selbst eine halbe Stunde schreiben tut fast weh.
Wie ich es hasse. Ich kann nichts tun, was mir gefällt. Nur schreiben. Bedingt.
Ich kann nur träumen. Denn in meinen Träumen kann ich alles. Ich kann als kleines Kind Seil springen; ich kann Hügel erklettern; ich kann rennen; ich kann aufstehen; wann ich will; ich kann schreiben, so lange ich will; ich kann mit Farben malen und Bäume in grün sehen.
Und ich kann lieben.
Ich weiß nicht, ob ich das in Wirklichkeit kann. In meinen Träumen ist es so einfach. Doch in der Wirklichkeit, glaube ich, kann ich es nicht. Denn es gibt niemanden, der mich wirklich lieben kann. Es gibt niemanden, der wirklich erkennen kann, wer ich bin, denn außer den Worten bringe ich nichts zustande. Und Worte finden allein können eine Persönlichkeit noch nicht ausmachen, oder? Niemand kann MICH sehen, niemand kann sehen, wie ich fliege, wie ich Bäume erklettere und Gartenzwerge aufstelle. Ich bin eingeschlossen. Wie ein dickes Vorhängeschloss ist mein Körper mir im Weg. Nur, dass es zu diesem Schloss wohl keinen Schlüssel gibt.

Lieber Freund,

ich muss ein zweites Mal anfangen, zu schreiben, denn beim letzten Mal war ich sehr erschöpft.
Ich hoffe sehr, dass dich meine Worte nicht beschämt oder geschockt haben.
Ich weiß auch gar nicht mehr genau, warum ich dir das alles schreibe. Wahrscheinlich, weil es sonst niemand wissen will.
Du musst mir nicht antworten. Doch ich möchte dir eines sagen: Du kannst dich glücklich schätzen, denn du hast ein erfülltes Leben. Du kannst nämlich tun und sehen, was du möchtest. Und niemand kann dich daran hindern. Du bist nicht eingesperrt in einen lahmen, hilflosen Körper und kannst nicht einmal mehr deine geliebten Farben sehen.
Du kannst es tun. Alles.

Auch, wenn es vielleicht seltsam klingen mag: Ich will dir sagen, dass du dein Leben genießen sollst. Sei du selbst und zeig es allen. So gut wie es nur geht. Schau in die Sonne und spüre die Wärme in deinem ganzen Körper. Renne und spüre die Kraft; lebe und spüre die Vollkommenheit deines Lebens.
Tu es. Für mich. Weil ich möchte, dass jeder, der es kann, es auch macht.

Für mich wird es nun Zeit, Abschied zu nehmen, doch ich hoffe, wir sehen uns irgendwann einmal. Irgendwo.
Und wenn du mich dann erkennst und mich vielleicht anlächelst,
dann werde ich auch lächeln.
Denn das, glaube ich, kann ich noch.

Autorin / Autor: Anna, 16 Jahre