Das Leben im Spiegel

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Miriam, 18 Jahre

Ihre rauen Hände glitten am goldenen Rahmen des Spiegels entlang. Sie musterte jeden Zentimeter des Metalls, das den Spiegel umfasste, sah die winzigen Kratzer in seiner Oberfläche, fühlte seine glatten Rundungen, die Blumen und Ranken bildeten. Wie alt er schon war! Und schon seit sie denken konnte, war er hier gewesen, hier auf dem staubigen Dachboden. Nein, eigentlich schon, bevor sie hatte denken können. Bereits vor ihrer Geburt war er hier gewesen, an Ort und Stelle, und keiner hatte es je gewagt, ihn zur Seite zu räumen, mochte er auch an Glanz verloren und an Staubschichten gewonnen haben. Es ging eine Faszination von ihm aus, die sie nicht erklären konnte …

Nun wollte sie von der intensiven Betrachtung des Äußeren des Spiegels zur Betrachtung ihres eigenen Äußeren übergehen. Sich selbst ins Gesicht blicken. Sie wagte einen Schritt vorwärts, hielt ihre Augen aber erst noch geschlossen. Atmete langsam ein und wieder aus. Ihre Lider flatterten. Der Geruch des muffigen Zimmers trat ihr stärker in die Nase als je zuvor. Dann hob sie den Blick.

Sie erkannte in der blanken Oberfläche vor sich ein faltiges Gesicht, umrahmt von grau gesträhnten Haaren, die wild um es herum wucherten. Ihre Haut schien durchsichtig und war übersät von kleinen dunklen Flecken. Zu allem Überfluss waren außerdem viele blaue Äderchen zu sehen, die der Farbe ihrer Augen schmeichelten. Blau. Strahlend blau. Die eine Sache, die sich nie verändert hatte, die ihr an ihr selbst immer am besten gefallen hatte. War ihre Iris in ihrem Leben auch schon oft hinter Tränen verschleiert gewesen, die blaue Farbe hatte es geschafft, die Feuchtigkeit zu durchdringen und trotz allem zu leuchten.

Waren ihre Augen auch ansonsten von vor Zorn und Enttäuschung aufgeplatzten Adern ganz rot gewesen, es hatte immer einen blauen Lichtblick in ihrer Mitte gegeben. Abgesehen von ihrer Augenfarbe gab es nicht mehr viel, was sie an ihrem Gesicht mochte. Es war eingefallen, zerfurcht, durchzogen von Linien, die ein Muster zu bilden schienen. Das Muster ihres Lebens, ihrer Erfahrungen. Gute wie schlechte, beide hatten ihre Zeichen hinterlassen, hatten sie gebrandmarkt, sodass sie nie alle jemals empfundenen Schmerzen oder Glücksgefühle vergessen könnte.

Sogar wenn sie dement würde, eines Tages würde sie bestimmt vor dem Spiegel stehen, ihr Gesicht eindrücklich betrachten und sich dann fragen, wo all diese Furchen herrührten. Und dann würde es ihr einfallen: Diese Lachfalte habe ich vertieft, als ich damals das erste Mal mit meiner Familie am Strand Urlaub gemacht habe und diese hier, als mich mein erster Freund zum ersten Mal wirklich zum Lachen gebracht hat. Diese Zornesfalte entstand garantiert, als er mich betrogen hat und die daneben … Sie wäre in der Lage, ewig so fortzufahren und sich in der Vergangenheit zu verlieren. Wieso warten, bis man dement wurde …?

Was ist das? Irgendetwas bewegt sich da vorne. Etwas Kleines, rosa-weiß-Gestreiftes. Es sieht mich an, mit großen Augen. Ich starre zurück. Krabble darauf zu. Es ist mir nicht geheuer, vor allem nicht, da es sich jetzt ebenfalls auf mich zu bewegt. Wieso tut es das? Es sieht mich immer noch an. Blaue Augen. Ich könnte es berühren, wenn ich wollte, aber will ich das? Ich bin mir nicht sicher, traue mich nicht. Aber nun strecke ich meine Hand doch aus, damit rechnend, ein weiches, warmes Etwas zu spüren. Meiner kleinen Kehle entfährt ein erschrockenes Quietschen, als meine Hand bloß patschige Fingerabdrücke auf einer kalten, glatten Oberfläche hinterlässt …

Er wird mich nie wahrnehmen. Nie. Wieso sollte er auch? Er ist perfekt. Groß, sportlich, strahlende Augen, gebräunte Haut. Und was bin ich daneben? Ein Nichts. Eine graue Maus, die sowieso nie irgendwer beachtet. Niemand. Diese langweiligen, glatten braunen Haare, die einfach an mir herunterhängen, als seien schwere Gewichte daran gebunden. Diese trockenen Lippen. Diese unreine Haut. Alles voller Pickel. Alles. Es wundert mich, dass meine einzelnen Gesichtspartien unter ihnen überhaupt noch erkennbar sind. Als würde das nicht reichen, bin ich darüber hinaus auch noch dick. Neben den anderen hübschen Mädchen sehe ich also nicht bloß aus wie eine graue Maus, sondern eher wie eine fette Ratte. Einfach nur schrecklich. Wenn ich er wäre, würde ich ebenfalls keinen zweiten Blick an so eine Person wie mich verschwenden. Ich sinke vor dem Spiegel auf die Knie, berühre mein Spiegelbild mit meiner Hand, als könnte ich es mit ein bisschen Fingerschnipsen nach meinen Vorstellungen gestalten. Meine klaren blauen Augen füllen sich mit Tränen. Aber auch die will ich nicht sehen. Ein dumpfes Geräusch ertönt, als meine Stirn mit voller Wucht gegen den Spiegel prallt …

Ich lächle. Ich strahle. Ich kann nicht damit aufhören. Kann es nicht glauben. Ich beiße mir auf die Unterlippe, immer noch strahlend, es immer noch nicht glaubend. Aber es muss wahr sein. Ich habe es doch eben noch ganz genau gespürt. Meine Lippen auf seinen. Er fühlt das Gleiche für mich wie ich für ihn. Er findet mich hübsch! Wirklich! Ich lächle mein Spiegelbild weiterhin an, stelle mir vor, es sei er. Meine Augen strahlen. Sie strahlen tatsächlich. Gedankenverloren hauche ich die ebene Oberfläche an und male mit meinen Fingern ein Herz, in dem man mein verschwommenes Lächeln sieht …

Es ist alles aus. Alles. Ich will niemanden mehr sehen. Vor allem nicht ihn. Und vor allem nicht mich. Ich will nie wieder meinem dummen blauäugigen Ich ins Gesicht schauen. Das kann ich einfach nicht. Es ist vorbei! Mein Weinen zerreißt die Stille, der Spiegel erbebt von meinen zornigen Schreien. Das Letzte, was ich erkenne, ist ein zusammengekauertes, heulendes Mädchen hinter der blutbespritzten Oberfläche des Spiegels …

Der Dachboden und der Platz vor dem Spiegel waren leer. Ein leichter Windstoß wirbelte Staub auf. An genau dieser Stelle hätte sie in ihr faltiges Gesicht blicken und auf ihr erfülltes, vergangenes Leben zurückschauen können. Hätte. Hätte sie es nicht frühzeitig beendet.