Wo bin ICH?

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Elena, 16 Jahre

Nichts als Selbsthass spüre ich in mir. Ich will raus, einfach nur raus aus diesem Gott verdammten Körper. Mein Gesicht, meine Haare, mein Bauch, meine Beine, mein Charakter - alles macht mich krank! Wie kann ich überhaupt leben? Ich hab das nicht verdient. Liebend gern würde ich dem Sensenmann meine Hand entgegen strecken, ihn anflehen mich mit zu nehmen. Ja das wäre schön. Endlich befreit von Allem hier. Ich erkenne mich nicht wieder. Wo ist das lebensfrohe, aufgeweckte Mädchen, das immer freundlich und nett zu allen Menschen ist?

Damals, als das alles angefangen hat, hatte ich noch Kraft. Ich hab mich so stark und unbesiegbar gefühlt. Ich dachte, ich wäre zu allem im Stande. In der Schule wurde ich zum Überflieger. Manche haben mich hinter meinem Rücken sogar als Streber bezeichnet. Ob mich das gekränkt hat? Nein, ganz im Gegenteil. Ich habe mich bestätigt gefühlt. Es war eine Art Anerkennung, die mich dazu getrieben hat noch mehr zu machen, noch besser zu sein. Ich wollte höher, wollte weiter, wollte alle hinter mir zurücklassen. Eine Eins in Englisch, in Deutsch, ja sogar in Mathe bekam ich ein sehr gut. Aber irgendwann kam ich zu dem Punkt, an dem mir der schulische Erfolg nicht mehr reichte. Das Beste war nicht mehr gut genug.

So wie ich früher einmal war, gibt es mich nicht mehr. Weg, einfach weg. Warum habe ich es soweit kommen lassen? Man kann es auch maßlos übertreiben. Ich hab es doch selber gemerkt, dass ich die Kontrolle verloren habe, dass das Böse in mir die Oberhand gewonnen hat. Wahrscheinlich wollte ich es einfach nicht wahr haben, wollte nicht akzeptieren, dass auch Ich Grenzen habe... Ich hab das Stoppschild einfach übersehen.

Schlank, schlanker, am schlankesten. So hieß mein neues Projekt. Mit gesunder und ausgewogener Ernährung und gelegentlichem Sport wollte ich einen passenden Körper, zu meinem neuen Lebensgefühl. Meine Ernährung wurde radikal umgestellt. Früchte und Gemüse sollten meine Hauptkost ausmachen. Ab und zu erlaubte ich mir natürlich auch ein Stück Kuchen oder einen Schokoriegel, aber als sich erste Erfolge einstellten, war damit Schluss.

Falsch. Ich habe es absichtlich übersehen, weil ich wollte, dass die anderen es merken. Mein Bruder, meine Mama oder meine Freunde sollten diejenigen sein, die mir sagen. „Halt, hier und nicht weiter.“ Aber das taten sie nicht. Also habe ich weiter gemacht, mich weiter gequält.

Zuerst waren es nur die Süßigkeiten, die aus meinem Speiseplan verbannt wurden, aber dann wurden Kalorien immer wichtiger für mich. Wo ich früher nach dem Lustprinzip gegessen hatte, entschieden nun die Kalorien, ob ich etwas aß oder nicht. Dabei setzte ich mir ein bestimmtes Maximum an Kalorien, die ich täglich zu mir nehmen durfte. 800 Kalorien erlaubte ich mir, Fett und Zucker waren Tabu. Ich veränderte meine Essgewohnheit so, dass ich morgens 500 kcal zu mir nahm. Das reichte für ein Sättigungsgefühl für ganze acht Stunden. Um 15 Uhr aß ich zu Mittag. Nur Gemüse, Früchte oder light Produkte setzte ich mir vor. Abends gab es nie etwas.

Bin ich so unwichtig? Bin ich allen wirklich so egal? Da habe ich endlich einen Weg gefunden, einen leisen Hilfeschrei von mir zu geben und trotzdem nimmt mich keiner wahr. Ich dachte immer, ich werde geliebt. Da habe ich mich wohl getäuscht.

Nicht zu vergessen ist mein übermäßiger Drang, Sport zu machen. Acht Mal die Woche habe ich mich insgesamt gezwungen Sport zu treiben. Ich war im Volleyball Verein, bei dem ich drei Mal die Woche für jeweils zwei Stunden trainierte. Nebenbei war ich zusätzlich bei einem Triathlon Team angemeldet, bei dem ich vier Mal die Woche Training hatte. Schwimmen am Montag und Dienstag für jeweils eineinhalb Stunden, donnertags Lauftraining und samstags ein intensives zweistündiges Schwimmtraining. Meistens bin ich sonntags noch laufen oder schwimmen gegangen. Wenn es die Schule zugelassen hat, auch beides.

Ihr alle habt nach meinem Outing gesagt, dass ihr es gemerkt habt. Wenn ihr es gesehen habt, wie ich mich selber vernichtete, wie ich mich aushungerte, warum habt ihr nichts getan? Wolltet ihr etwa sehen, wie selbstzerstörerisch ein Mensch sein kann? Hat euch die Show wenigstens gefallen? Tja, tut mir leid, wenn ich so eine Spaßbremse bin.

Ein paar Monate hat es mein Körper ausgehalten, aber ich habe irgendwann selber gemerkt, wie mir die Puste ausging. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich da im Physik Unterricht saß, nur noch ein Schatten meiner selbst. Mein Blick starr und leer nach vorne gerichtet. Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, einfach umzufallen. Für mich war das ein wundervoller Gedanke, ja sogar mein größter Traum. Ich stellte mir vor, dass dadurch alle meine Probleme in Luft aufgelöst werden würden. An Selbstmord dachte ich damals noch nicht, dafür waren meine Erinnerungen an meine Gefühle für meine Freunde und Verwandten noch zu intensiv. Das einzige, was ich wollte, war in Ohnmacht zu fallen und im Krankenhaus wieder aufzuwachen.

Wisst ihr, was ich am meisten vermisse? Meine Gefühle! Emotionen wie Freude, Liebe oder Trauer kenne ich nicht. Eigentlich ist da gar nichts mehr in mir drinnen. Mein Kopf ist leer bis auf den nie endenden Gedanken, der sich nur ums Nicht-Essen dreht. Jeden Tag versuche ich von neuen gegen den Teufel in mir anzukämpfen und jeden Tag verliere ich. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, ich bin am Ende mit meinen Kräften. Macht, dass es aufhört, bitte! Aber ihr könnt mich nicht hören. Wenn ihr mir schon nicht helft, muss ich das eben beenden. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viel Überwindung das kostet nur diesen einen Bissen zu nehmen. Ich will ja wieder normal sein, will meine Lebensfreude wieder zurück, will wieder Ich selbst sein. Irgendwo im nirgendwo habe ich mich verloren. Aber wo kann ich anfangen zu suchen, wenn ich mich nicht mal mehr selbst kenne? Alles was ich brauche ist Zeit... Oder ist es schon zu spät?

Autorin / Autor: Elena, 16 Jahre