Gespalten

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Patricia, 15 Jahre

Er steht vor mir, den Kopf eingezogen, ein erwartungsvoller Blick. Eine giftige Bemerkung liegt schon auf meiner Zunge, doch ich schlucke sie herunter. „Willst du mit mir auf den Abschlussball gehen?“ Ich lächele gequält und schüttele den Kopf. Ich sehe die Erkenntnis in seinen Augen. „Ne, … nein, so hab i…ich das nicht gemeint …“ Dabei hüpft er wie ein aufgescheuchtes Reh von einem Bein aufs andere. Wie sehr ich ihn doch beneide. Ohne Kommentar drehe ich mich um.

Viele bekommen zum 18. Geburtstag ein Auto geschenkt, ich darf seitdem im Rollstuhl sitzen. Bei diesem Gedanken spüre ich, wie mir erneut Tränen in die Augen schießen. Ich greife an die Räder und drücke sie mit aller Kraft nach vorne. Nur weg von hier. Ich rolle den Bürgersteig entlang, immer schneller und schneller, bis sich Timos Entschuldigungen mit dem Lärm der Hauptstraße vermischen. Es ist gerade mal ein halbes Jahr her, das Geräusch der Autos lässt mich aber noch immer zusammenzucken. Ich wollte nur über die Straße, nach Hause. Wie muss es sich wohl angefühlt haben als die Motorhaube meine Seite rammte? Ich erinnere mich nicht mehr. Die Reifen quietschen, als ich zum Stehen komme. Ich fühle, wie eine heiße Träne meine Wange hinunterläuft, sie findet ihren Weg um den Mundwinkel herum bis zum Kinn. Das salzige Wasser sammelt sich in einem großen Tropfen, und fällt auf meine Jeans. Ich spüre nichts.

„Verdammt“, schreie ich. Ich schlage auf mein Bein. „Du nutzloses …!“ Meine Stimme bricht weg. Wie albern, ein querschnittgelähmtes Mädchen, das auf ihr Bein einschlägt. Ich werfe meinen Kopf in den Nacken, will schreien, bringe aber keinen Ton heraus. Mein Atem stockt, ich muss würgen. „Tief die Luft einsaugen, bis in die Zehenspitzen“, die Erinnerung an die Schwester im Krankenhaus lässt mich nach Luft schnappen. Ich versuche es, atme die kühlen Herbstluft, sie füllt meine Lungen mit neuem Leben, doch meine Zehenspitzen bleiben tot. Nutzlos!

Ich biege in eine Seitenstraße. Die Klingel schrillt, als ich auf den Namen neben der Tür drücke. Die Haustür fliegt auf und mein kleiner Bruder stürmt auf mich zu. Hinter ihm, meine Mutter, ihre tiefen Augenringe zeugen von vielen schlaflosen Nächten. Sie sieht mich mit diesem leidenden Blick an, der mir langsam zur Gewohnheit geworden ist. Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus war ich so sehr mit mir beschäftigt, dass ich erst spät das abweisende Verhalten meiner Mutter wahrnahm. Ich wollte ihr Zeit geben, aber diese Zeit scheint die neue Wunde in meinem Herzen zu vertiefen. Wie gut, dass ich für Mark immer noch derselbe Mensch bin. Er fällt mir um den Hals und drückt mich mit seinen speckigen Händen. „Ich habe mit Mama Spaghetti gekocht“, quakt er mit der Stimme eines Fünfjährigen. Ich versuche zu lächeln. Meine Mutter schiebt mich wortlos in die Küche. Am gedeckten Tisch sitzt mein Vater, der mich mit einem breiten Grinsen begrüßt.

„Hallo, meine Große!“, poltert er. Ich freue mich über die Normalität in seiner Stimme. Meine Mutter nimmt meinen Teller und häuft eine große Portion Spaghetti darauf. Früher durfte ich mir noch selbst mein Essen nehmen. Die Trauer hat der Wut Platz gemacht, sie umschlingt meine Brust wie eine Python ihr Opfer und macht mir das Atmen schwer. Doch ich nehme den Teller ohne ein Wort. Ich suche ihren Blick, aber sie weicht mir aus, während sie sich mir gegenüber an den Tisch setzt. Als wäre ich Ungeziefer, das sie vergiftet, sobald es ihr zu nahe kommt. Ich würde am liebsten aufspringen, ihr ins Gesicht schreien, wie verletzend ihr Verhalten ist, dann aus der Tür rennen, weg von dem Schweigen, doch ich kann nicht. Meine Füße empfangen keinen Befehl meines Gehirns.

„Darf ich morgen Abend bei Alex übernachten?“, fragt mein Bruder in die Stille hinein. „Auf gar keinen Fall“, sagt meine Mutter. Ihre Stimme ist bestimmend und doch so dünn wie Papier. „Warum nicht?“, Mark beginnt zu quengeln. Meist funktioniert das. „Dein Vater fährt morgen auf Fortbildung und ich will, dass während der drei Tage alle zu Hause sind. Ich möchte nicht …“ Ich weiß was jetzt kommt, es reicht! Ich fühle, wie die Wut meine Lunge loslässt und sich durch meinen Hals hinauf in meinen Mund schlängelt. „Du möchtest nicht mit mir allein sein, stimmt ’s?!!“ Meine Tonlage ist zwei Oktaven zu hoch.
„Du müsstest mich ja ansehen oder ansprechen“ Meine Stimme überschlägt sich. „Was ist so schlimm an mir? Bin ich eine Schande für die Familie? Meinst du eine Querschnittslähmung“, bei diesem Wort zuckt sie merklich zusammen. „macht mich weniger zu deiner Tochter?“

Ihre Hände zittern. Sie stottert: „Für mich … ist das auch sehr schwer. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll …“ Sie starrt auf ihren Teller. „Du weißt nicht, wie du DAMIT umgehen sollst?“, schreie ich ihr ihre Worte ins Gesicht. „Für DICH ist das sehr schwer? Wie soll es für mich leichter werden, wenn ich jeden Tag erinnert werde, was für ein Krüppel ich bin? Hast du auch schon einmal daran gedacht, wie es mir dabei geht?“ Ich atme aus.

Die Python habe ich ausgespuckt, meine giftigen Worte trennen mich von meiner Mutter. Mein Vater sitzt nur da. Ich bemerke jetzt erst, dass Mark sich die Ohren zu hält. Meine Mutter beginnt zu weinen. Mein Gewissen regt sich, doch auch ohne viel Wut im Bauch kann ich es ersticken. Ich bin nicht die, die ein schlechtes Gewissen haben sollte. So schnell wie möglich drehe ich mich mit dem Rollstuhl um. Fahre nach draußen, über die Rampe von der Veranda in den Vorgarten. Es hat begonnen zu regnen. Dicke Tropfen fallen auf meinen Körper. Der Regen ist angenehm und löscht das Feuer in mir. Ich lege den Kopf langsam in den Nacken, blicke in den Himmel, spüre das Wasser auf meinem Gesicht. Ich fühle, wie die erste Träne aus meinem Augenwinkel flüchtet. Das Salzwasser vermischt sich mit dem Regen. Ich lächle. Es sind keine Tränen der Trauer. Es sind Tränen der Erleichterung.