Es gibt (k)einen Ausweg

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Sandra, 15 Jahre

Tagebuchauszug eines magersüchtigen Mädchens.

                                                                                5. Dezember 2009
„Liebes Tagebuch,   
heute in der Schule hat mich wieder einmal niemand beachtet. Alle Jungs rennen zu Kate und bewundern sie. Kate ist eben echt hübsch und hat eine perfekte Figur. Joe, der süßeste und tollste Junge auf der ganzen Schule, beachtet mich natürlich auch nicht, ich glaube er merkt nicht einmal, dass ich existiere. Eine perfekte Figur kann man von mir nicht behaupten. Ich fühle mich fett und hässlich. Meine Lieblingshose, die ich vor einem Jahr noch getragen habe, bekomme ich nur mit sehr viel Mühe zu und wenn ich sie an habe, dann sieht sie auch total bescheuert aus. Ich muss unbedingt abnehmen, aber übertreiben darf ich es nicht, denn ich will nicht so aussehen wie die abgemagerten Models aus den Zeitschriften.

Meinen Essensplan habe ich umgestellt. Weniger und gesünder Essen und mehr Sport treiben. Jeden Abend mache ich in meinem Zimmer Fitness, aber meine Mutter weiß nichts davon. Die gerichteten Schulbrote nehme ich nicht mit in die Schule, sondern verstecke sie in meinem Zimmer. Ich halte Schulbrote für unnötig und nehme nur Obst mit, es ist gesünder und die anderen sehen, dass ich etwas für meine Figur mache. Auch zu Hause esse ich nicht mehr das was auf den Tisch kommt. Meine Mutter nervt mich die ganze Zeit damit, ich solle wieder normal essen, denn das ist nicht die gesunde Art. Doch wenn ich esse, habe ich Angst wieder zuzunehmen, denn ich habe schon einen großen Erfolg auf der Waage. Da gibt es nur einen Weg, der mir hilft diese Angst zu überwinden, um auch meine Mutter wieder glücklich zu machen: Ich esse das was auf den Tisch kommt und verschwinde danach im Bad, um die Nahrung zu erbrechen.

Es gibt mir ein befreites Gefühl und tut mir gut. Doch ich weiß auch, das es nicht richtig ist und ich krank werde. Doch der Kopf wehrt sich gegen diese Gedanken. Meine Mutter bemerkte es und machte sich selbstverständlich totale Sorgen. Sie kontrolliert mich ständig was ich esse, was ich mache und hat einen Termin mit meinem Jugendarzt vereinbart, um ein Gespräch zu führen und mich zu untersuchen. Ich habe nun 10 Kilo in nur 3 Wochen verloren und mein Gewicht geht auch immer weiter runter, darauf bin ich sehr stolz, dass ich es endlich geschafft habe mit sehr viel Disziplin. Mein Arzt hat mir sofort, als er meine Werte und mein Verhalten gesehen hat, eine Einweisung ins Krankenhaus gegeben. Mein Tagebuch schreib ich also zurzeit aus dem Krankenhaus.

Ich liege auf der Station, wo viele Mädchen, aber auch Jungen, an einer Essstörung erkrankt sind. Im Krankenhaus weigere ich mich weiterhin zu essen, denn ich kann meine Angst zuzunehmen nicht überwinden. Ich kann es einfach nicht. Wenn ich im Esssaal sehe, wie sich die anderen das Essen in den Mund schieben, wird mir total schlecht und ich würde am liebsten auf die Toilette rennen und mich übergeben. Die Ärzte haben beschlossen mich künstlich zu ernähren, denn mein Gewicht geht ihrer Meinung nach weiterhin drastisch runter. Doch die künstliche Ernährung ist eine Qual und es bringt mir Schmerzen. Nicht körperlich, sondern geistig. Ich wollte mir die Schläuche aus meiner Nase reißen, also fesselten sie meine Handgelenke und meine Füße ans Bett, so konnte ich mich nicht mehr bewegen. Mehrere Tage lang habe ich nur geschrien und geweint deswegen. Es war eine sehr schlimme Zeit. Ich habe begriffen, dass ich so nicht weiter machen kann. Ein Psychologe hat mir geholfen. Mein Essverhalten hat sich sehr gebessert und die Ärzte haben beschlossen mich zu entlassen.

Sie vertrauen mir und darauf bin ich stolz. Tagebuch schreibe ich nun endlich wieder von zu Hause aus. Ich habe wieder etwas zugenommen und in der Schule reden meine Klassenkameradinnen mit mir. Es ist schon sehr traurig, dass sie erst jetzt, wo ich abgenommen habe, mit mir reden. Aber ich freue mich sehr darüber, also ist es mir egal. Doch Kate hat zu mir gesagt, ich hätte zu viel zugenommen und sollte aufpassen, sonst sehe ich wieder so aus wie früher. Das war ein Fehler, denn es hat mich sehr getroffen und wieder achte ich auf mein Essen und kontrolliere mich ständig. Ich verfalle nun wieder in das frühere Schema und alles geht von vorne los. Die Klinik in der ich jetzt bin, ist nur speziell für Magersüchtige. Das Erbrechen macht mich sehr schwach und auch die künstliche Ernährung schlägt nicht an. Ich glaube, ich schreibe nun die letzten Zeilen. Vieles habe ich durchgemacht, viel Kraft musste ich aufwenden, habe keine Unterstützung von Freunden oder Freundinnen bekommen, nur meine Mutter stand hinter mir und wollte mir helfen, doch nun habe ich sie enttäuscht und sie muss sehen wie ihr Kind aufgibt. Meinem Gefühl nach, ist es Zeit aufzuhören und einfach nur abzuwarten. Meine Kraft ist am Ende …

In Liebe, Jessica.“

Jessica starb im März 2010. Magersucht ist immer noch und wird weiterhin eine Volkskrankheit, vor allem unter Jugendlichen, sein. Viele Mädchen, aber auch Jungen sterben daran und haben mit Therapien kein oder sehr wenig Erfolg. Zu den Faktoren, die eine Magersucht begünstigen können, gehören  Selbstzweifel, geringes Selbstwertgefühl, Perfektionismus, übermäßige Sorge um Figur und Gewicht und vieles mehr.