Fehländerung

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Lea, 14 Jahre

Für die beiden die mir gezeigt haben wer ich bin. Ihr wisst wer gemeint ist. Ihr wisst wer ihr seid.

Fehländerung
Verändert habe ich mich? Ja, vielleicht. Aber heißt das dass ich ein schlechterer Mensch geworden bin? Das ganze Leben ist doch nur ein einziger Kreislauf. Jeder verändert sich. Ich sehe nach oben und sehe die Sterne, diese winzigen, gleißend hellen Punkte und frage mich ob du gerade auch die gleichen Punkte siehst. Und ob die Menschen vor so langer Zeit diese Punkte gesehen haben. Sicher sind einige verschwunden, manche verrückt und neue hinzugekommen. Eben weil sich alles verändert.
Denkst du, du bist noch die, die du mal warst? Das Mädchen von früher ist die Jugendliche von heute und die Frau von morgen. Und das ist doch gut so. Oder? Wieso machst du dann jetzt so ein Drama? Ich frage mich, ob du das früher getan hättest. Nein. Früher hättest du das einfach hingenommen.
Es fängt an zu schneien. Ich spüre, wie eine der kalten Schneeflocken auf mein Gesicht fällt und auf eine der heißen Tränen trifft, die mir die Wange herunterrollen. Eis und Feuer. Früher und heute.
Ich öffne den Karton auf meinem Schoß und sehe mir das älteste Bild von uns beiden an. Es ist ein einfaches Polaroid, an den Seiten ist es schon verblasst und es hat einen Gelbstich. Wir grinsen beide in die Kamera. Deine Haare sind schon längst nicht mehr dunkelblond. Die Farbe hat in der Zeit oft gewechselt. Ich krame weiter und finde etliche Bilder von uns beiden. „Ein Herz und eine Seele. Euch kann nichts trennen.“, höre ich die Stimme unserer Erzieherin. Selbstsicher und davon überzeugt die Wahrheit zu sagen. Doch das war mal. Irgendwann schließt sich jedes Kapitel. Irgendwann verläuft jede Tinte zu einem Meer aus Blau.
Als ich den Karton mit beiden Händen schließe, fühle ich mich kurz unsicher. Ich habe Angst von dem Klettergerüst zu fallen, auf dem ich als kleines Kind so viele Stunden verbracht habe. Unser Kindergarten ist an einen neuen, größeren Standpunkt umgezogen. Nur die alten Spielgeräte, unser Paradies, wurden nicht für Wert befunden mitgenommen zu werden. Ich bin über den kleinen Zaun geklettert, der damals so eine unüberwindbare Hürde dargestellt hatte und dann die kalten Eisenstangen das Klettergerüst hinauf. Früher war es so einfach. Wir haben uns so groß gefühlt, wenn wir darauf standen. Es ging nur hinauf. Jetzt habe ich dauernd Angst zu fallen. Wahrscheinlich ist dies das Leben.
Schwarz zeichnet sich das flache Gebäude in der Dunkelheit von seinem Hintergrund ab. Ich denke an unsere Tage in der Grundschule, im Hort, an die unendlichen Stunden bei uns zu Hause und die Nächte, in denen wir bei dem Anderen geschlafen haben. Alles ist vorbei. Vorbei ist alles. Ist alles vorbei? Kann ich die Zeit nicht zurückdrehen und unsere Freundschaft zurückholen?
Ich kann nicht ohne dich leben. Wie auch? Du warst immer da, ohne dich ist es doch anders. Und anders kann ich doch nicht. Anders ist doch verkehrt. Das kannst du doch nicht von mir verlangen.
Wir haben schon so lange nichts mehr zusammen unternommen. Seit du nicht mehr jeden Tag bei mir bist, bin ich nicht mehr ich. 
In diesem Moment gehen zwei SMS auf meinem Handy ein. Das Hintergrundbild zeigt mich, ein Mädchen und einen Jungen aus meiner neuen Clique. Beide waren immer für mich da. Keiner von beiden hat mich je im Regen stehen lassen.
Beide SMS sind von ihnen. Keine höflichen Small-Talk-Floskeln wie es mir geht und was ich mache. Beide wollen mir einfach nur mitteilen dass sie gerade an mich denken mussten. Ein Lächeln geht über mein Gesicht, mein Herz öffnet sich. In der Gegenwart der beiden fühle ich mich immer so frei, als ob ich fliegen könnte. Sie sind etwas Besonderes und unabhängig voneinander bringen sie mich mit ihrer Art zum Lächeln. Manchmal nur innerlich, aber dafür für lange.
Sie und die anderen, mein neuer Umgang, haben mich zu dem gemacht was ich jetzt bin. Zu dem was du so hasst. Und zu dem, was ich so… liebe? Ja, liebe.
Und in diesem Moment begreife ich. Anders ist gut. Veränderung ist gut. Manche Menschen gehen mit dir, auch wenn du anders wirst, manche musst du zurücklassen weil sie sich weigern, einen anderen Menschen an deiner Stelle zu akzeptieren, der eigentlich du bist. Wahrscheinlich ist es besser so. Wir werden unsere guten Zeiten in Erinnerung behalten und uns jetzt nicht mit Streit, Gemeinheiten und Unverständnis diese Bilder verderben. Denn: Mein Leben ist schon längst ein Leben ohne dich.
Ich öffne den Karton erneut und drehe ihn um. Die Fotos wirbeln zusammen mit den Schneeflocken zu Boden. Ich möchte unsere gemeinsame Zeit nicht vergessen, doch diese Fotos waren nicht unsere Momente. In ein paar Tagen werden sie verweht, verwischt, verblasst sein. Vielleicht wird sie jemand finden und auch ihm wird dieses Loslassen gelingen.
Ich schreibe beiden zurück und bedanke mich dafür, dass sie da sind. Doch ich weiß, dass sie eigentlich wissen, wie wichtig sie mir sind. 
Mein Gesicht spiegelt sich auf dem dunklen Display und ich vergleiche was ich sehe mit dem Mädchen auf den Fotos zu meinen Füßen. Sie haben Ähnlichkeit, doch jede ist eine andere Person. Eine Person mit ihren Schwächen und Stärken, auch wenn es manchmal Überdeckungen dabei gibt. Und das Mädchen im Handydisplay sieht zufrieden aus, während die andere nur lächelt, um später sagen zu können, sie war glücklich.

Ich bin anders geworden. Aber ich bin ich geworden. Kein neues Ich. Sondern das eigentliche Ich das die ganze Zeit da war, sich aber nie getraut hat hervorzukommen. Eben weil es Angst hatte seine für es so glückliche Zeit zu verlieren. Nun weiß es was Glück ist.
Denn Veränderung ist kein Fehler.

Autorin / Autor: Lea, 14 Jahre