Ein Schritt

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Janike, 14 Jahre

Soll ich? Diese eine Frage beschäftigt mich schon lange. Und es ist nicht so, als wenn ich
überlegen würde, ob ich vielleicht in den Reitverein eintreten sollte oder ob ich
Mathenachhilfe nehmen sollte. Nein, es ist eine andere Entscheidung. Eine für das Leben.
Oder eher für den Tod. Ihr kennt dieses Gefühl bestimmt, wenn man nicht weiter weiß. Man
befindet sich in einer endlosen Schlaufe, die einem den Verstand raubt, die kein Ende nimmt.
Wenn man keinen Sinn mehr im Leben sieht, denkt, dass alles, was man tun würde, am Ende
doch umsonst wäre. In so einer Situation befinde ich mich gerade. Meistens fällt mir immer
irgendeine Lösung ein, doch diesmal nicht. Es ist auch nicht nur ein großes Problem, sondern
mehrere kleine. Nie hätte ich gedacht, dass man sich selbst so fertigmachen kann. Wegen
Dingen, die mal nicht so funktionieren, wie man es gerne hätte.
Alles fing so an: Eine Mitschülerin namens Lena, die mich noch nie so richtig leiden konnte,
hat auf der Klassenfahrt irgendetwas über mich erzählt, dass ich kriminell wäre, stehlen würde
und Drogen nähme. Obwohl sie keinerlei Beweise hatte, haben alle es geglaubt. Lena war
cool, hatte immer Markenklamotten an, war jeden Tag perfekt geschminkt und hatte reichlich
viele Verehrer, auch von den Jungs aus höheren Klassen. Natürlich wollten alle mit ihr
befreundet sein, waren meist der gleichen Meinung wie sie. Deshalb hat niemand sich getraut,
etwas gegen das Gerücht zu sagen, geschweige denn, es nicht zu glauben. Selbst meine beste
Freundin Natalie, die eigentlich genau weiß, wie ich bin und dass ich noch nie irgendetwas
geklaut habe oder so, hat so getan, als wäre sie geschockt, um Lena zu gefallen. Denn obwohl
sie meine beste Freundin war, wäre sie gerne mit der Anführerin der Klasse befreundet, das
wusste ich schon lange. Nie jedoch hätte ich gedacht, dass sie mich deswegen schlecht
machen würde! Das hat sie aber, sie hat sogar mitgelästert, war nur noch mit Miss
Oberhübsch unterwegs, ich war der Loser. Alle haben mich dumm angeschaut, einen großen
Bogen um mich gemacht, mich ignoriert. Aus den Gründen habe ich immer schlechtere Noten
geschrieben, konnte mich in der Schule nicht mehr konzentrieren. Mehrere Wochen musste
ich dies aushalten, dann habe ich mich endlich getraut, mit meinen Eltern darüber zu reden.
Oder eher: Ich versuchte es, doch immer wenn ich gerade Luft holte, um ihnen meine Sorgen
zu erzählen, klingelte entweder das Handy von meiner Mutter oder von meinem Vater.
Natürlich waren das dann immer sehr wichtige Leute, die zumindest bedeutender waren als
ich. Und als ich einmal Glück hatte, weil keines der beiden Handys auch nur einen Piep
machte, ist ihnen plötzlich eingefallen, dass sie noch mal schnell los müssen, da sonst die
Läden schließen würden. „Später, Mäuschen!“, hatte Mama gesagt und ist zusammen mit
Papa einfach so einkaufen gegangen. Traurig saß ich in der Küche, ich fühlte mich noch nie
so alleingelassen. Niemanden konnte ich anrufen, um zu reden, denn ich hatte ja keine
Freunde mehr. In diesem Moment fragte ich mich: Hat das Leben überhaupt noch einen Sinn?
Mobbing in der Schule, schlechte Noten, keine beste Freundin mehr und Eltern, die nie
zuhörten, bei denen alles andere wichtiger war als ihre eigene Tochter.
Ja, und nun stehe ich auf dem großen Fels in der Nähe unseres Hauses, unter mir das Meer.
An etwas kleineren Klippen, die aus dem Wasser ragen, zerschlagen die Wellen, Gischt
schäumt auf. Nur ein Schritt und ich hätte keine Probleme mehr. Nur ein Schritt zum sicheren
Tod. Nur ein Schritt fehlt zum Paradies. Nach langem Nachdenken ist mir nur dieser Ausweg
eingefallen, ich habe wirklich versucht, eine Lösung zu finden, ich schwöre!
Ich atme tief ein, schließe die Augen. Hebe ein Bein, strecke es nach vorne und stelle mich
auf den Flug ein, auf den Fall ins Ungewisse. Wie sich sterben wohl anfühlt? Was ist, wenn
ich „Glück“ habe und mich nur schwer verletze? Tausend Fragen tauchen auf einmal auf, mir
wird schwindlig. Plötzlich packt mich jemand von hinten, zieht mich weg von dem Abgrund.

Ich werde fest gehalten, fühle mich geborgen. Die Augen zu öffnen traue ich mich nicht, doch
das ist nicht nötig, auch wenn ich nichts sehe weiß ich ganz genau von wem ich gerettet
worden bin. Der Geruch, das Parfum. Lange nicht mehr habe ich es gerochen, aber erkennen
würde ich es immer, da bin ich mir sicher. Ich drehe mich langsam um, fange an meine
Augenlider zu bewegen. Das was ich sehe bricht mir das Herz. Meine Mutter steht vor mir,
kleinlaut, in sich zusammengesunken, Tränen laufen ihr die Wangen herunter, sie sagt kein
Wort. Auf einmal weine ich auch, nichts kann ich dagegen tun, ich schmecke die salzige
Flüssigkeit, die in meine Mundwinkel läuft. Sie legt den Arm um mich, zieht mich Richtung
zu Hause. Auf dem ganzen Weg spricht niemand. Wir hören nur die Vögel zwitschern und das
Meer hinter uns rauschen. Wortlos schließt Mama die Wohnungstür auf, geht ins
Wohnzimmer, setzt sich auf das Sofa. Ich folge ihr. Mit kaltem Ausdruck im Gesicht fragt sie
mich: „Warum hast du das getan? Warum wolltest du dich…“ Sie zögert. „…umbringen? Ist
dir dein Leben denn gar nichts wert?“ Ich könnte schon wieder heulen. Meine Mutter stellt
eine überaus berechtigte Frage, doch ich weiß keine Antwort. Dann fällt mir etwas ein. „Es
waren meine Gefühle. Vielleicht wollte ich es gar nicht, aber meine Körpergefühle haben
mich gesteuert. Das, was in letzter Zeit alles passiert ist, hat mich beschäftigt. Sehr sogar.“
„Aber Alicia, wieso hast du mir denn nichts erzählt?“ Mama nimmt meine Hand. „Wollte ich
doch, aber ihr habt euch nie für mich interessiert, nur die Arbeit oder die Einkäufe waren
wichtig.“ „Es tut mir so Leid, wahrscheinlich habe ich nicht gemerkt, was du wirklich für
große Probleme hast, deshalb habe ich dich in den Hintergrund geschoben. Das war nicht in
Ordnung von mir und auch von deinem Vater. Ich werde mit ihm reden, wenn er später
kommt, das dürfen wir nie wieder tun, man merkt ja, was sonst passiert, du hättest dich fast
getötet! Aber jetzt rede, sag mir alles was dich bedrückt, ich verspreche dir: Wir werden eine
Lösung finden!“ Jetzt sprudeln die Worte nur so hervor, meine Mutter lässt mich reden, nickt
nur ab und zu. Als ich fertig bin, will sie etwas erwidern, doch dazu kommt sie nicht, denn
meine Augen sind plötzlich zugefallen. Ein paar Tage später, ich muss wohl so lange
geschlafen haben, wache ich in meinem Bett auf, weil ein eigenartiges Klingeln mich geweckt
hat. Ich brauche einen Moment, um zu erkennen: Es kommt von unserer Haustür! Als nun
meine Mutter mein Zimmer betritt, und mir sagt, dass ein Besuch für mich da sei, bin ich
vollkommen verwirrt. Wer kann das nur sein? In dem Moment mache ich mir keine Gedanken
um mein schreckliches Aussehen, sondern schiebe mich an Mama vorbei Richtung Haustür.
Ich kann meinen Augen kaum glauben, denn den Menschen, der gerade vor mir steht, hätte
ich am wenigsten erwartet. Natalie. Sie schaut mich beschämt an, beißt sich auf die Lippen.
Sagen tut sie nichts, aber das ist auch nicht nötig, ich verstehe sie auch ohne Worte. Mein
Herz macht einen Hüpfer, ich freue mich sie zu sehen. Ein Lächeln huscht mir über das
Gesicht, sie grinst mich ebenfalls an. Dann liegen wir uns in den Armen, vergessen ist alles,
was passiert ist. Leise flüstert sie mir ins Ohr: „Lena ist weggezogen. Nun werden sich
bestimmt einige Dinge ändern!“ Das ist ja cool!
Und das wollte ich nicht mehr miterleben? Außerdem wäre nicht nur mein Leben im Eimer
gewesen, aber zum Glück bin ich von einer besonderen Person gerettet worden. Jetzt weiß ich
nämlich, dass man sich wegen nichts umbringen muss, denn man kann über alles reden, und
zu jedem Problem gibt es eine Lösung! Und auf meine Frage, warum meine Mama genau in
dieser Sekunde am Fels vorbeikam, antwortete sie mit einem geheimnisvollen
Gesichtsausdruck: „Alicia, ich bin deine Mutter, ich habe gespürt, dass irgendetwas nicht
stimmt. Da du ein paar Stunden zuvor das Haus verlassen hast, habe ich sofort alles stehen
und liegen gelassen, um dich zu suchen. Ich bin froh, dass ich dich im letzten Moment noch
gefunden habe!“ Ja, sonst wäre die Welt jetzt ohne mich. Ein Schritt nach vorne hätte das
Leben unserer Familie verändert. Ich hätte niemals gedacht, dass ein Schritt so bedeutend sein
kann!

Autorin / Autor: Janike, 14 Jahre