Unsichtbarkeiten

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Lena, 19 Jahre

Anna weiß, wie Farben schmecken.
Sie mag ehrliche Umarmungen, den Geruch von frischen Mohnbrötchen und das Gefühl, wenn sie mit nackten Füßen über eine Wiese läuft.
Das Kitzeln.
Anna ist sehr hübsch. Sie hat braunes, gelocktes Haar, eine Stupsnase, Sommersprossen und eine zierliche Gestalt, um die ich sie ernsthaft beneide.
Ihre Augen sind von einem tiefen Blau, in dem ein großes Geheimnis zu liegen scheint.
Aber Anna macht kein Geheimnis daraus. Neulich sprach sie im Bus ein Junge an: „Du hast wunderschöne Augen.“
„Danke.“, sie lächelte in seine Richtung. „Die habe ich nur zur Zierde. Sehen kann ich mit denen nichts.“  Dann gab ich ihr die Sonnenbrille zurück und freute mich darüber, dass das nette Kompliment ihre Laune gehoben hat.
Denn an diesem Tag war Anna betrübt. „Du, warum machen sich alle ständig solche Gedanken über ihren Körper?“, fragte sie mich.  Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
Sollte ich ihr etwa sagen, dass Nadine sich nicht mehr in ihre Nähe traut, weil sie fürchtet, Anna würde die vielen Schnitte auf ihren Armen ertasten? Oder sie fragen, wieso sie im Sommer nur Langärmliges trug?
Oder, warum Felicitas immer dünner wird – sodass Anna sie bei ihrem letzten Treffen nur an Stimme und Geruch erkannte?
Könnte sie jemals verstehen, was wir anderen Mädchen an Trends wie den Bikini-Bridge-Selfies fanden? Aus welchem Grund die  Thigh Gab derart wichtig ist? Gentlemen Blondinen präferieren?
Dass wir uns – ob wir wollen oder nicht – jede Sekunde unseres Lebens mit anderen vergleichen? Uns an ihnen messen? An dem, was wir über sie wissen? Was wir von ihnen sehen können?
Anna hat es da viel schwieriger. Um ihren Körper direkt mit einem anderen vergleichen zu können, muss sie beide ertasten. Und jeder kennt das ja: Normalerweise sieht man viel mehr, als man ertasten darf.
Weiß Anna eigentlich, wie bewundernswert sie ist? Mit einem gefühlten Körper vor die Tür zu treten – dazu gehört Mut. Ich würde mich wahrscheinlich gar nicht unter Menschen wagen, wenn ich nicht wüsste, wie ich aussehe. Ob Zahnpasta in meinen Mundwinkeln klebt, oder meine Kleidung farblich zusammen passt.
Einmal, als Anna lange Zeit auf mich warten musste, weil ich nicht wusste, was ich anziehen sollte, sagte sie lachend zu mir: „Mir ist egal, wie du darin aussiehst. Hauptsache, du fühlst dich fabelhaft!“
Als der Busfahrer an einer roten Ampel abrupt abbremste, stieß meine blinde Freundin leicht gegen mich. „Warum sind all diese Mädchen so traurig?“, murmelte sie leise. „Weil sie sich gesehen haben? Weil sie sich verglichen haben?“, steuerte ich meine Gedanken nun bei.
„Aber es gibt doch so viele Unsichtbarkeiten!“ Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ja, wenn jemand zum Beispiel schöne Organe hat, oder einen Tinnitus…“ Anna boxte mich zielsicher in den Oberarm. Aua! Toll, ausgerechnet das kann sie!

Natürlich hatte ich sie verstanden. Für Anna sieht die Welt anders aus.
Tobias, der Junge aus dem Bus, fand Annas Welt sofort interessant und ließ nicht locker, bis er ein wichtiger Teil davon wurde. (Und das war harte Arbeit, denn Anna wollte ihm permanent klarmachen, sie sei defekt – was er jedes Mal mit einem „Perfekt!“ verbesserte. Alter Charmeur.)
Wenn wir heute einen lustigen Abend zu dritt verbringen und Anna irgendwann mit dem Ohr an Tobias‘ Brust einschläft, zum Takt seines Herzens träumt, dann würde ich ihr gerne sagen, wie gut sie zusammen aussehen.
Aber mir ist klar, dass sie das Wichtigste sowieso schon weiß: Die Seelensache stimmt.

Autorin / Autor: von Lena, 19 Jahre