Abhanden

Einsendung zum Schreibwettbewerb "KörperGEFÜHLE" von Karla, 17 Jahre

„Das war so nicht geplant.“
Das ist mein erster strukturierter Gedanke, als ich die Augen aufschlage.
Mein Leben ist ganze 16 Lebensjahre perfekt nach Plan gelaufen, anscheinend sehnte es sich nun nach einer Veränderung. Dabei war es noch nicht einmal langweilig oder unerfüllt, ganz im Gegenteil. Seit mich mit fünf Jahren meine Mutter zu meinem ersten Turnverein brachte, habe ich meinen Lebensinhalt gefunden. Ohne den Sport wäre ich eine komplett andere Person geworden.
Abspringen. Geschickt nach hinten biegen. Hände auf den Boden. Auf die Beine achten. Anspannen. Überklappen. Geschmeidig aufkommen.
Ich liebe diese Kontrolle über jede einzelne Bewegung meines Körpers. Ich liebe meinen Körper, weil er stark ist und auch so aussieht. Ich liebe sogar den verdammten Muskelkater nach einem besonders harten Training. Der Sport gibt mir alles, was ich brauche. Spaß, Freunde, ein super Aussehen und, resultierend daraus, Selbstbewusstsein.
Doch das war einmal.
Ich hebe die weißen Laken ein Stück weit, sodass ich einen kurzen Blick auf meine Beine werfen kann. Beiße mir auf die Lippen und muss ein Wimmern unterdrücken, wende schnell den Blick wieder ab, auf die neutralen Vorhänge, die sich leicht im Wind bewegen. Das Fenster steht offen. Es ist warm draußen, aber die Wärme kommt nicht bei mir an. Mir ist kalt. Vor allem meine Beine sind kalt. Glaube ich. Vorsichtig lege ich meine rechte Hand an meinen rechten Oberschenkel. Der fühlt sich warm an. Das ist das komische. Zudem spüre ich die Hand an meinem Bein nicht.
Das ist alles so absurd. Kann gar nicht sein. Das bin doch ich, Linda, die super sportlich ist und Elemente turnen kann, von denen andere nur träumen können. Wo ich jetzt auf meine entfremdeten Beine blicke, verzieht sich mein Mund unaufhaltsam in eine schmerzverzerrte Grimasse. Ein Schluchzen bricht erstickt heraus. Mit der Hand halte ich den Mund zu. Ich will nicht jammern. Ich bin doch stark. Erschöpft sinke ich in das viel zu hohe Kissen, die Schmerzmittel fordern ihren Tribut.
Das war so alles nicht gewollt. Ich wollte an jenem Tag eigentlich gar nicht mit dem Mofa fahren, aber bei meinem Freund Felipe fiel die erste Stunde aus, er würde mich deshalb nicht mit seinem Auto abholen. Nahm ich also doch mein schon etwas in die Jahre gekommenes Mofa. An einer Kreuzung passte entweder ich oder der Autofahrer nicht auf, ist mir auch egal, jedenfalls tat es kurz weh, dann war ich weg. Und dann hier. Querschnittlähmung. Eine inkomplette immerhin, meinte der Arzt mit einem Lächeln, das mir mitteilte, dass er schon viel Schlimmeres gesehen hatte. Der hat ja auch gut lächeln, er läuft und hüpft hier herum, wie es ihm beliebt.
Ich muss wohl weggedämmert sein, denn als ich nun wieder erwache, ist das Fenster zu und draußen bricht gerade ein neuer Tag an. Felipe hat mich noch kein einziges Mal besucht. Dabei sind wir bereits seit über einem Jahr zusammen! Um ehrlich zu sein, waren mein einziger Besuch bis jetzt meine Eltern und mein alter Grundschulfreund Paul. Keinen von ihnen habe ich mitbekommen, sie kamen während ich schlief und ließen Karten und Blumen da. Wie man das eben so macht.
Ich denke, seit ich hier bin, viel über den Sinn des Lebens und diesen ganzen philosophischen Kram, zu dem Gesunde kaum Zeit und Muße haben, nach. Frage mich ernsthaft, ob ich noch weiterleben will. Alles, was mich ausmacht, ist auf einmal fort. Einfach weggeschleudert von einem silbernen Opel Insignia. Denn Leistungsturnen, das haben mir hier alle unmissverständlich klar gemacht, ist für mich Geschichte. Bei dieser Vorstellung schlinge ich die Arme fest um meinen Oberkörper, den ich noch fühle, presse die Augen zusammen und versuche, sowohl den Gedanken als auch die Tränen zu verscheuchen. So findet mich die Krankenpflegerin ein paar Minuten später vor.
Sie erzählt mir, was ich sowieso schon weiß, nämlich dass ich nicht komplett gelähmt bin, sondern nur die zu meinen Beinen führenden Nervenbahnen zerstört sind, sodass sie quasi taub, aber nicht tot sind. Ich soll nun meine ersten Gehversuche machen. Widerwillig dulde ich die Hilfe der Frau beim Aufsetzen. Meine Beine liegen hilflos unter mir herum, als gehörten sie nicht zu mir. Der Anblick ist schwer zu ertragen. Schnell stelle ich mich hin, um nicht weiter auf sie herunterblicken zu müssen. Etwas zu schnell, ich kippe um, nur die Arme der Pflegerin halten mich auf meinem Weg zum Boden auf. Peinlich so etwas. Sie schiebt mir Krücken herüber und angesichts meiner Instabilität nehme ich das Hilfsmittel an. Jetzt habe ich vier Beine, also wage ich zwei Schritte. Klappt. Stolz sehe ich zu der Frau in rosa auf. Ermutigendes Nicken. Dass ich mich einmal über zwei Schritte so freuen würde, ist das krasseste an der ganzen Sache. Innerhalb der nächsten paar Minuten verfliegt die Freude jedoch wie der Duft eines billigen Parfums in einem Parkhaus voller Abgase. Es ist ein wahrer Kampf, das Gleichgewicht zu halten und meine störrischen Beine dazu zu überreden, mich in ungelenken Schrittchen durch das Zimmer zu tragen. Ich muss aussehen, als sei ich vollkommen betrunken auf einem Schiff unterwegs. Mit starkem Seegang versteht sich. Nach einer Weile reicht es mir. Ich lasse mich einfach dort, wo ich gerade bin, auf den Boden zusammensinken, bis nur noch ein kümmerliches Häufchen Linda übrig bleibt, das schluchzend und schniefend die Arme um ihre Beine wickelt und diese festhält. Festhält, damit sie nicht wegtreiben. Damit sie mich nicht ganz verlassen. Damit sie vielleicht anerkennen, dass sie noch ein Teil von mir sind.
Aber das sehen sie nicht ein und die Pflegerin auch nicht, die jetzt genug von meiner Selbstbemitleidung hat und mich hochzieht und ins Bett zurückpackt. Da liege ich dann, starr und kalt wie eh und je, zu keinem vernünftigen Gedanken fähig, außer dem wie ein Propeller in meinem Kopf kreisenden Satz „Linda ist tot.“
Es gibt die alte Linda nicht mehr. Die alte Linda starb auf jener Kreuzung, als das Auto mich erfasste und irgendetwas in meinem Rücken zertrümmerte. Die neue Linda liegt ungeschminkt, mit brennenden Augen und einer fetten Portion Selbstmitleid in einem Einzelzimmer eines  Krankenhauses und weiß, dass sie jetzt stärker sein muss, als je zuvor.

Autorin / Autor: von Karla, 17 Jahre