Fliegen

Eine fiktive Geschichte von Anastasia

Der kühle Wind weht durch mein langes braunes Haar. Ich schließe meine Augen und eine Träne rollt mir die Wange herunter. Mein ganzer Körper zittert, doch ich spüre keine Kälte. Ich spüre nichts mehr. Vielleicht war es ja der Alkohol. Vielleicht auch die Tabletten. Mein Körper fühlt sich so schwer an. Nur noch ein Schritt, dann ist alles aus. Dann kann ich endlich fliegen. Nichts hält mich mehr auf dieser gottverdammten Welt. Gott, dass ich nicht lache. Wo ist er wenn ich ihn brauche? Wo ist er? Langsam hebe ich meine Arme und atme tief durch. Mein Herz läuft Amok, doch mich umkommt eine tiefe Ruhe. Ein letztes Mal öffne ich meine Augen und schaue nach unten. Die ganzen Menschen sehen von hier oben aus wie viele kleine Ameisen. Alle in grau/ schwarz. Wie sie dort langlaufen, mit ihren Aktentaschen und Koffern. Gestresst. Sie haben keine Zeit, noch nicht einmal um kurz hochzuschauen..

Mein Name ist Tessa und ich bin 19 Jahre alt. Auch bin ich nicht sonderlich groß, eher etwas kleiner. Eigentlich hat mein Leben vor kurzem erst richtig begonnen. Doch was ist passiert? Ich stand schon einmal hier. Vor vier Jahren. An genau dieser Stelle stand ich und wollte allem ein Ende bereiten, doch ich konnte nicht. Etwas hielt mich noch. Da war dieses eine kleine Mädchen. Sie war allein und wirkte ein wenig verstört. Ich sah sie, wie sie auf dem Dach hier Oben saß und nahm sie in den Arm. Sie war völlig unterkühlt. Sie erzählte mir sie habe als einzige einen Anschlag überlebt. „Alles war rot, überall sah man nichts als Feuer und Rauch. Ich habe sie alle sterben sehen. Ihre Schreie hallen mir täglich durch den Kopf, so wie ein nie endendes Echo. Es ist schrecklich..“, erzählte sie mir. Ihre dunkelblauen Augen sahen müde aus. Sie haben an Farbe verloren. Schatten zeichneten sich unter diesen ab. Als sie mir direkt in die Augen schaute sah ich diese Leere. Hörte selbst die Schreie der Opfer.
Das Mädchen war noch jung, etwa zwölf Jahre alt. Gemeinsam saßen wir dann da und schwiegen. Ich nahm sie mit nach Hause, kümmerte mich um sie. Nie hatte ich nach ihrem Namen gefragt. Jahrelang haben wir zusammengelebt, waren wie Schwestern. Wir kannten einander besser als sich selbst, aber dennoch waren wir uns so fremd. Heute ist sie 16, hat eine Therapie gemacht und angefangen zu Leben. Ein neues Kapitel hat sich für sie geöffnet. Einen neue Zeit. Eine, in der sie Gefühle wie Glück und Zufriedenheit verspürt. Und ich? Ich stehe hier und kämpfe mit mir selbst. Meine Mutter wurde vor einem Jahr ermordet. Vor meinen Augen. Einen Vater hatte ich nie. Keinen richtigen zumindest. Ab und zu rief er vielleicht mal an, mehr aber auch nicht. Ich war wütend. Rache war das einzige woran ich denken konnte. Wieso meine Mutter? Ich hatte doch nur sie. Tagelang konnte ich nicht schlafen. Drei Tage vergingen insgesamt und ich machte kein Auge zu. Rache, ein schlimmes Gefühl. Es ist wie der Teufel, es lässt dich nicht mehr los. Quält dich. Bringt dich um. Ich habe ihm seine Frau erschossen. Ihr Blut klebt nun an meinen Händen. Aber nicht nur ihres, auch das vom Mörder meiner Mutter. Wir standen einander gegenüber. Vor seinen Augen brachte ich seine Frau um. „Wie fühlt sich das an, einen geliebten Menschen zu verlieren?“, fragte ich kalt. Doch er stand nur starr da und schaute mir in meine müden Augen. Ein Teil von ihm war eindeutig grade gestorben. Seine bessere Hälfte würde ich sagen. Ich hielt die Waffe gradewegs auf ihn gerichtet. „Warum?“, fragte ich ihn und endlich kamen auch mir die Tränen. Aber er rührte sich nicht. Kein bisschen. Aus einer Träne wurden dann zwei, drei, bis sie ununterbrochen flossen. Er fiel auf seine Knie, sah zu seiner Frau, zu seiner toten Frau, herüber und griff nach ihrer Hand. Dann schaute er mich wieder an und stellte mir die Gegenfrage: „Warum?“ Wegen dem Leid. Du sollst Leiden. Leiden, so wie ich leide. Allein dich zu töten hätte mir nicht gerreicht. Das wäre zu einfach gewesen. Immernoch hielt ich die Waffe auf ihn gerichtet. „Der war für dich“, sagte ich und trocknete meine Tränen. Seine Augen weiteten sich. „Und das ist für meine Mutter“, sagte ich und drückte ab. Sofort ließ ich die Waffe fallen und rannte weg. Wochenlang versteckte ich mich und nun bin ich wieder hier. Meine Mutter ist gestorben, ich habe gelitten. Seine Frau ist gestorben, er hat gelitten. Er ist tot. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich muss das Gleichgewicht wieder herstellen. Es ist eine zu große psychische Belastung für mich, als dass ich mit meiner Tat leben konnte.
Leise knarrte die Tür hinter mir. Ich höre Schritte. Das Mädchen war wieder da und legte eine Hand auf meine Schulter. „Bleib“, flüstert sie. Niemals wird sie verstehen weshalb ich wieder hier stand. Niemand wird es je erfahren. Ich schaute ihr in die Augen. Etwas flehendes fand ich in ihnen. Ich lächelte ihr zu. „Danke“, flüstere ich und ließ mich nach Vorne fallen.
Ich fliege.
Zum ersten Mal fühlte ich mich Frei.
Wie ein Vogel.
Ich war endlich frei.

Autorin / Autor: Anastasia